Alles außer Wodka: Ein Besuch im Museum für urrussische Getränke

Die Trinkgewohnheiten der Russen sind legendär. Aber was stimmt davon eigentlich und was nicht? Auf diese eine Frage gibt es im Museum für Russische Nationalgetränke in Gawrilow Possad rund 180 Kilometer nordöstlich von Moskau viele Antworten.

In solchen Fässern reifte der Honigwein unter der Erde. (Foto: Olga Silantjewa)

Mit dem Auto sind es von Moskau vier Stunden und von Susdal 20 Minuten, bis das Ortseingangsschild von Gawrilow Possad auftaucht. Das Städtchen in der Re­gion Iwanowo zählt nur 5500 Einwohner. Bis vor ein paar Jahren hätte es zu den deprimierendsten Ortschaften im europäischen Teil Russlands gerechnet werden können. Doch gerade erlebt Gawrilow Possad eine Art Wiedergeburt. Die Straßen wurden in Ordnung gebracht, die Ufer des Flüsschens Irmes einer Schönheitskur unterzogen, im Ortskern findet sich ein ungewöhnlicher Kinderspielplatz mit moderner Beleuchtung. Die Stadt hat sich bereits an mehreren Ausschreibungen zur Schaffung eines komfortablen öffentlichen Raumes erfolgreich beteiligt.

Dass es aufwärts geht in Gawrilow Possad, ist eng mit dem Namen von Igor Kechter verknüpft. Seit der Russlanddeutsche das bereits im 18. Jahrhundert unter Katharina der Großen gebaute, aber inzwischen verfallene Gebäude des lokalen Gestüts kaufte, restaurierte und vor etwas mehr als einem Jahr hier ein Museum für Russische Natio­nalgetränke einrichtete, fließen auch die Staatsgelder.

Dafür, was und wie die Russen trinken, interessiert sich Kechter nicht erst seit gestern. „Ich sammle schon seit 30 Jahren Rezepte und alle möglichen Gegenstände zu diesem Thema, beschäftige mich mit den Technologien der Herstellung“, erzählt er in seinem Museum. Um seine Sammlung auszustellen, habe er Räumlichkeiten „mit Geschichte“ gesucht – und in Gawrilow Possad gefunden. Das Gestüt eigne sich ideal für diese Zwecke.

Alkohol auf Umwegen

Im Verkostungssaal des Museums sind vereinzelte Besucher zu sehen. Eine Familie aus dem Ort ist vorbeigekommen, um Kaffee zu trinken, denn „hier hat man letztes Frühjahr einen Kaffeeautomaten aufgestellt“. Aber vor allem kann man im Museum jedes beliebige russische Nationalgetränk probieren. Nach Meinung von Kechter gibt es 22 davon – sieben alkoho­lische und 15 alkoholfreie.

Igor Kechter mit einem traditionellen russischen Samowar (Foto: Olga Silantjewa)

Aber woher kommt eigentlich bei ihm, dem Deutschen, das Inte­resse für russische Getränke? Das ist eine lange Geschichte. Sie beginnt im Jahr 1988, mitten in der Perestroi­ka von Michail Gorbatschow mit seiner Anti-Alkohol-Kampagne, die den Alkoholkonsum der Bevölkerung drastisch reduzieren sollte und dafür sowohl Produktion als auch Verkauf einschränkte.

Kechter trat gerade eine Laufbahn als Offizier in der sowjetischen Armee an. Dienstort: Tiksi in der russischen Arktis, eine Hafenstadt am Nord­polarmeer. Wie es die Tradition verlangte, musste die Aufnahme in den Offiziersstand begossen werden. Aber schon nach dem ersten Gläschen wurde es der Hauptperson der Feier ziemlich anders. „Mir sprangen die Augen aus der Augenhöhle wie im Zeichentrickfilm Tom und Jerry“, erinnert sich der Unternehmer. „Alles in mir brannte, vom Kopf bis zu den Zehen. Wahnsinn! Ich habe mich bei der Wachablösung erkundigt, was das wohl für ein Zeug war, das wie Gummi schmeckte. Das Getränk heißt Kaloscha: Alkohol für tech­nische Zwecke, mit Kerosin versetzt.“

Danach habe er angefangen, Fragen zu stellen, was denn so alles getrunken wurde und wie es zustande kam. Da die Militärangehörigen aus allen möglichen Ecken der Sowjetunion stammten, kannten sie die verschiedensten Methoden, alkoholische Getränke zu erzeugen. So war der Grundstein für Kechters Know-how in der Sache gelegt.

Vom Bürgermeister zum Gastronomen

Nach der Armee arbeitete er eine Zeitlang bei der Zeitung und machte sich dann selbstständig. In der Region Wladimir war er in der Hotelbranche, im Bauwesen und Tourismus tätig. Ab 2011 gehörte Kechter als Abgeordneter dem Stadtrat von Susdal an, Russlands wahrscheinlich berühmtester Kleinstadt, die auch bei auslän­dischen Besuchern wegen ihrer vielen Baudenkmäler hoch im Kurs steht. Zwei Jahre später wurde er zum Bürgermeister gewählt. Und obwohl ihm eine zweite Amtszeit sicher war, verzichtete er darauf und wechselte nach drei Jahren in die Gastronomie und als Führungsmitglied zum Verband der kleinen touristischen Städte Russlands. Kechter war Mitautor der „Gastronomischen Landkarte Russlands“, die im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 aufgelegt wurde, um die authentische lokale Küche zu fördern. Auf ihr verzeichnet ist auch sein eigenes Landrestaurant „Ogurez“ (Gurke) in Susdal, wo Gurkenmarmelade und Gurkenwasser im Angebot sind.

Apropos Gurkenwasser: Die Flüssigkeit, die zum Einlegen von Lebensmitteln verwendet wird, hält nach Ansicht des Gastronomen gesund. Er selbst schwört allerdings nicht auf Gurken-, sondern Tomaten­wasser, „weil meine Frau das so gut zubereitet“. Derartige Salzlaken seien in Russland schon immer sehr geschätzt worden und könnten ohne Weiteres als Nationalgetränk bezeichnet werden, so Kechter. „Die Menschen haben viel eingesäuert und die dabei entstandene Flüssigkeit nicht weggeschüttet, sondern getrunken.“ Nach seinen Worten hätten sie auch geglaubt, dass Russland von der Pest und diversen Darmerkrankungen mit Epidemie-Charakter verschont geblieben sei, weil Produkte der Milchsäuregärung entsprechende Bakterien abgetötet hätten, „wenn das mit dem Einsäuern richtig gemacht wurde, auf russische Art“.

Fünf Kriterien für ein Nationalgetränk

In Russland erzählt man sich auch, dass die russischen Eis­hockeyprofis in der nordamerikanischen NHL so stark sind, weil sie den Salzverlust im Organismus während eines Spiels anschließend durch Gurkenwasser wieder ausgleichen und so die Muskeln schneller regenerieren. Solche Geschichten kann Igor Kechter stundenlang zum Besten geben.

Aber was macht ein Getränk nun eigentlich zum Natio­nalgetränk? Eine Definition hat er in den Quellen nicht gefunden – und seine eigene aufgestellt. Demnach sind fünf Bedingungen zu erfüllen. Bei dem Getränk muss es sich erstens um eine speziell hergestellte Flüssigkeit handeln, die nicht gesundheitsschädlich ist. Zweitens muss das Rezept die Eigenheiten des russischen Volkes widerspiegeln. Drittens muss das Getränk unter häuslichen Voraussetzungen zu gewinnen sein. Viertens muss es historisch vom russischen Volk hergestellt worden sein. Und fünftens müssen die natürlichen Inhaltsstoffe dafür auf russischem Boden gewachsen sein. „Erfüllt ein Getränk diese fünf Kriterien, dann darf es als Nationalgetränk gelten“, sagt Kechter.

Wodka, im Ausland geradezu der Inbegriff des russischen Getränks, tut das nicht. Die Spirituose ist weder gesundheitlich unbedenklich noch kann sie unter häus­lichen Bedingungen zubereitet werden. Außerdem bezeichne „Wodka“ erst seit 1936 das, was man heute darunter versteht, so Kechter. Damals sei ein entsprechender staatlicher Standard (GOST) festgelegt worden. Zwar habe der Name schon lange davor existiert, doch sei damit alles Mögliche gemeint gewesen.

Warum die Flitterwochen „Honigmonat“ heißen

Das russischste aller Getränke ist für Igor Kechter stattdessen der Brottrunk Kwass, der auch für die jahrhundertelangen Traditionen in der Gärung steht. Doch für das Hauptgetränk der Russen hält Kechter den Honigwein (Met). Seine Herstellung ähnelte der des Weins. Während jedoch im Kaukasus oder in Italien zur Lagerung der Fässer auf Felskeller zurückgegriffen werden konnte, standen auf dem flachen russischen Land solche natürlichen Kühlschränke nicht zur Verfügung. Die Fässer mit Honig, Wasser und Traubensaft wurden stattdessen mit Teer gestrichen und im Boden vergraben – für mindestens fünf Jahre, wenn nicht gar für 20 und mehr.

Met aus Kechters eigener Produktion (Foto: Olga Silantjewa)

Letzteres war der Fall, wenn der Met nach der Geburt eines Stammhalters unter die Erde kam und erst zu seiner Hochzeit ausgebuddelt wurde. Die 492 Liter eines Fasses reichten für die gesamte Hochzeitsgesellschaft. Und die Frischvermählten konnten noch einen ganzen Monat davon trinken. „Honigmonat“ sagen die Russen bis heute dafür, was auf Deutsch „Flitterwochen“ heißt.

Das Museum für Russische Natio­nalgetränke in Gawrilow Possad ist von mittwochs bis sonntags von 10 bis 19 Uhr geöffnet.

Olga Silantjewa

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