Aeroflot korrigiert nach oben und unten

Hinter den russischen Fluggesellschaften liegt ein Jahr mit vielen Tiefen und wenigen Höhen. Während es im Westen nach der Coronakrise endlich wieder aufwärts geht, musste die Branche in Russland nach kurzer Erholung 2021 nun den nächsten Rückschlag verkraften. Doch öffentlich gibt man sich eher trotzig und selbstbewusst.

Der Moskauer Flughafen Scheremetjewo ist Russlands größter und einer der größten in Europa. (Foto: Tino Künzel)

Aeroflot & Co. haben für 2022 rote Zahlen gemeldet. Doch das Minus ist eher moderat als dramatisch ausgefallen. Und so meinte Alexander Neradko, der Chef der Luftfahrtbehörde Rosawiazija, Anfang Februar im Wirtschaftsblatt RBK zufrieden, der Westen habe mit seinen Sanktionen versucht, Russlands Luftverkehr zu „zerstören“, daraus sei aber „nichts geworden“.

Zuvor war bekannt geworden, dass die russischen Fluggesellschaften im vergangenen Jahr 95,1 Millionen Passagiere befördert haben. Das ist ein empfindlicher Rückgang von 14,3 Prozent gegenüber 2021, angesichts des Kahlschlags auf internationalen Strecken aber ein relativ glimpfliches Ergebnis. Nach dem 24. Februar haben etwa die meisten europäischen Staaten ihren Luftraum für Flugzeuge aus Russland gesperrt. Wer in die EU will, muss seitdem einen Umweg nehmen, beispielsweise über die Türkei.

Auslandsverkehr lahmgelegt

Doch das war längst nicht das einzige Problem. Der internationale Flugverkehr kam damals so gut wie zum Erliegen, weil auf den allermeisten Auslandsflughäfen die Beschlagnahme russischer Maschinen drohte: Sie wurden von westlichen Leasingunternehmen zurückgefordert. Zudem verhängten Airbus und Boeing ein Embargo für die Lieferung von Flugzeugen und Ersatzteilen sowie für Wartungsleistungen. Die betroffenen Airlines hatten damit nicht nur akute Sorgen, wie unter solchen Umständen überhaupt der Flugbetrieb aufrechterhalten werden kann. Auch die Aussichten trübten sich sichtlich ein. Würden mit der Zeit immer mehr reparaturbedürftige Maschinen ausfallen oder sich gar die Unfälle häufen? War es mit der Zeit zunehmend gefährlich, sich in Russland in ein Flugzeug zu setzen?

Für den Flughafen in Sotschi war 2022 ein Rekordjahr. (Foto: Tino Künzel)

Der große Crash der Branche blieb letztlich aus. Es gab sogar den einen oder anderen Lichtblick. Zahlreiche Flughäfen in den russischen Regionen fertigten mehr Passagiere ab als je zuvor, so etwa Sotschi mit 13 Millionen, was einen Zuwachs von 17 Prozent gegenüber dem Vorjahr und nahezu eine Verdopplung gegenüber den Bestwerten vor der Pandemie bedeutet, Nowosibirsk (+12%) und Irkutsk (25%). Der Binnenverkehr profitierte von den eingeschränkten Möglichkeiten, ins Ausland zu fliegen. Auch die in den vergangenen Jahren stark ausgebauten Direktverbindungen zwischen regionalen Zielen ohne Umsteigen in Moskau – auf sie entfallen heute bereits 40 Prozent aller Inlandsflüge – haben offenbar die Nachfrage gestützt.

Aus- und Umwege

Doch ohne massive Subventionen wären schwere Turbulenzen wohl kaum zu vermeiden gewesen. Das Verkehrsministerium spricht von 174 Milliarden Rubel, umgerechnet etwa 2,3 Milliarden Euro, mit denen der Staat die Fluggesellschaften alimentierte und sich so de facto an den Ticketpreisen auf innerrussischen Strecken beteiligte. Dennoch verzeichneten einige Regionalflughäfen wie etwa in Jekaterinburg (-3,6%), Kaliningrad (-4,3%) und Samara (-2,9%) eine negative Entwicklung.

Elf Flughäfen sind seit dem 24. Februar wegen ihrer Nähe zur ukrainischen Grenze gleich ganz geschlossen, darunter in den Millionenstädten Rostow am Don und Woronesch. Am Schwarzen Meer, Russlands Urlaubsregion Nummer eins, wird nur noch der Flughafen in Sotschi betrieben. Und selbst der muss von Moskau aus über eine veränderte, deutlich längere, weil weiter östlich verlaufende Route angeflogen werden: Erst über dem Kaspischen Meer schwenken die Flieger nach Westen ein und kreuzen Richtung Sotschi den russischen Nordkaukasus. Einen ähnlichen Bogen erfordern mittlerweile auch Inlandsflüge von Moskau zur Exklave Kaliningrad, die auf drei Seiten von EU-Territorium umschlossen ist. Statt des direkten Wegs führt der einzig mögliche Flugkorridor deshalb über die Ostsee und ihre internationalen Gewässer.

Moskauer Flughäfen fallen zurück

Stark Federn lassen mussten im vorigen Jahr die Moskauer Großflughäfen, an deren Geschäften der Auslandsverkehr einen besonders hohen Anteil hat. Scheremetjewo, Russlands größter Airport, kam auf 28,4 Millionen Fluggäste, ein Minus von 7 Prozent gegenüber 2021. In den letzten zehn Jahren war nur das Pandemiejahr 2020 noch schwächer ausgefallen. Domodedowo, die Nummer zwei, und Wnukowo schnitten mit einem Minus von 15 beziehungsweise 8,9 Prozent noch schlechter ab. Der Flughafen Pulkowo in St. Petersburg konnte sich mit +0,6 Prozent vergleichsweise gut behaupten.

Das neueste Terminal des Flughafens Scheremetjewo unter der Bezeichnung C wurde im Januar 2020 eingeweiht. (Foto: Tino Künzel)

2020 war es für die 20 größten russischen Flughäfen beim Passagieraufkommen um durchschnittlich 30,6 Prozent abwärts gegangen. Im Jahr darauf konnten sie mit einem Plus von 61,9 Prozent diesen Einbruch aber mehr als wettmachen. In einem Umfeld, das noch stark im Zeichen der Pandemie stand, belegte Scheremetjewo unter Europas verkehrsreichsten Flughäfen 2021 Platz zwei (hinter dem Istanbul Airport), Domodedowo Platz fünf. 2022 finden sich die beiden Flughäfen nur noch auf den Plätzen 13 und 24 wieder.

Seinen bisherigen Spitzenwert hatte Scheremetjewo im Jahr 2019 mit 49,4 Millionen Passagieren erzielt. Der Flughafen war rund um die Fußball-Weltmeisterschaft 2018 stark ausgebaut worden. Gegenwärtig beschränkt sich der Betrieb auf die Terminals B und C, die im Sommer 2018 und Anfang 2020 eröffnet wurden. Die Terminals D, E und F sowie die im Herbst 2019 fertiggestellte dritte Start- und Landebahn werden vorerst nicht genutzt.

Westliche Flugzeuge dominieren

Ob für Russlands Luftfahrt inzwischen das Schlimmste überstanden ist oder das dicke Ende erst noch kommt, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die 18 größten Fluggesellschaften betreiben zusammen 784 Flugzeuge. Davon sind mehr als drei Viertel aus westlicher Produktion. Bei größeren Airlines wie S7, Ural Airlines oder Pobeda besteht die Flotte komplett aus Boeing- und Airbus-Jets. Unter den 180 Maschinen von Aeroflot sind nur zwei russische Flugzeuge.

Und auch diese Kurz- und Mittelstreckenflieger vom Typ Suchoi Superjet 100 – des derzeit einzigen Verkehrsflugzeugs, das in Russland in Serie hergestellt wird – sind gespickt mit westlicher Technik. Als die Fertigung des Superjets 2007 begann, erhoffte man sich von dieser Zusammenarbeit mit renommierten Herstellern bessere Absatzchancen im Ausland. Das ging nur sehr bedingt auf. Zum 1. Januar waren 162 Flugzeuge des Typs im Einsatz – alle in Russland.

Wie nun aber die Flugtüchtigkeit von in- und ausländischen Maschinen in Zeiten von Sanktionen gewährleisten? Die russische Regierung hat vor einigen Monaten den sogenannten Parallelimport von Ersatzteilen aus Drittländern genehmigt. Teilweise sind die Fluggesellschaften auch dazu übergegangen, bestimmte Flugzeuge als „Organspender“ für andere einzusetzen. Neradko wehrte sich in seinem Interview dagegen, das als „Kannibalismus“ zu bezeichnen. Bauteile innerhalb der Flotte hier aus- und da einzubauen, sei eine „weltweite Praxis“, sagte er. An der Flugsicherheit ändere das nichts.

„Wiederauferstehung der Luftfahrtindustrie“

Bei Rosawiazija und anderen verantwortlichen Stellen richtet man sich erklärtermaßen darauf ein, mit der Zeit ganz ohne westliche Flugzeuge auskommen zu müssen. Neradko spricht von einer „Wiederauferstehung der einheimischen Luftfahrtindustrie“. Sie soll in die Lage versetzt werden, den Bedarf auch selbst zu decken. Importsubstitution ist wieder einmal das Zauberwort. Schon seit 2019 wird eine neue Generation des kleinen Superjet mit russischen Triebwerken vom Typ PD-8 (statt des französisch-russischen PowerJet SaM146) und auch sonst maximal importunabhängiger Ausrüstung entwickelt. Außerdem wird die bereits ausrangierte Tupolow Tu-214 (ein Pendant zur Boeing 757) reaktiviert und mit der Irkut MS-21 (entspricht etwa dem Airbus A320neo und der Boeing 737 Max) ein neues Modell in den Markt eingeführt.

Im Herbst hat Aeroflot für sich und seine Töchter Rossija und Pobeda 339 Flugzeuge der drei genannten Typen bestellt. Die Auslieferung soll bis 2030 erfolgen. Dass dieser Zeitplan zu halten ist, wird von vielen Experten bezweifelt. Vom Superjet konnten im Verlauf von 15 Jahren 230 Stück produziert werden – und das bei durchaus besserer Beschaffungslage. Dass sich die Kapazitäten ausgerechnet jetzt und relativ kurzfristig um ein Mehrfaches steigern lassen, klingt eher nach Zweckoptimismus. Ende Januar hat Präsident Putin die Regierung angewiesen, die Produktion von mindestens 700 russischen Flugzeugen und Hubschraubern bis 2030 durch eine Co-Finanzierung mit Geldern aus dem nationalen Wohlstandsfonds sicherzustellen. 63 Flieger erhalte die Aeroflot-Gruppe bereits bis Ende 2015, versicherte Handels- und Industrieminister Denis Manturow neulich, nämlich 34 Superjet, 18 MS-21 und 11 Tu-214.

Großraumflieger „freigekauft“

Selbst wenn das gelingt, müssen sich die übrigen Fluggesellschaften wohl hinten anstellen, ehe auch sie auf neues Fluggerät hoffen können. Völlig unklar ist außerdem, wie die Importsubstitution bei Großraumflugzeugen funktionieren soll. Sie werden auf Langstrecken eingesetzt, um beispielsweise die Strecke Moskau-Wladiwostok (6500 Kilometer) nonstop zurücklegen zu können. Allein Aeroflot unterhält 41 solche Maschinen vom Typ Boeing 777-300, Airbus A350-900 und Airbus A330-300, die zwischen 300 und 430 Menschen Platz bieten.

Boeing 777-300ER der Aeroflot (Foto: Tino Künzel)

Die zu Sowjetzeiten größte Fluggesellschaft der Welt teilte Ende Dezember mit, zehn weitere Boeing 777 aus dem Leasingvertrag mit einer irischen Tochter der russischen VEB Leasing herausgekauft zu haben. Das erlaubte es, sie aus dem Register von Bermuda abzumelden. Bis zum Frühjahr war es gängige Praxis gewesen, Importflugzeuge aus wirtschaftlichen Gründen nicht in Russland zuzulassen, sondern auf der Karibikinsel, ersichtlich an den Buchstaben VP-B und VP-Q in der Kennzeichnung.

Mitte März hatte die Luftaufsichtsbehörde von Bermuda den dort registrierten russischen Maschinen jedoch die Lufttüchtigkeit entzogen. Die hätten damit am Boden bleiben müssen. Russland registrierte die betreffenden Flieger daraufhin kurzerhand selbst. Weil eine Doppelregistrierung jedoch nach internationalem Recht unzulässig ist, fielen diese Flugzeuge für das lukrative Auslandsgeschäft aus. Mit dem Erwerb von insgesamt 18 seiner Boeing 777 erkaufte sich Aeroflot die Möglichkeit, damit unter anderem Linienflüge im Verkehr mit der Türkei – dem mit Abstand gefragtesten Reiseziel im Ausland – zu absolvieren.

Kein Ersatz in Sicht

Wodurch die „Triple Seven“ und andere Großraumflugzeuge eines Tages abgelöst werden könnten, wenn nicht durch Nachfolgeversionen von denselben Herstellern, steht allerdings in den Sternen. Das chinesisch-russische Gemeinschaftsprojekt CR929 kommt seit Jahren nicht vom Fleck. Und der noch zu Sowjetzeiten konzipierten Iljuschin Il-96 ein Update zu verpassen, ist bisher nicht viel mehr als ein Gedankenspiel. Selbst in der Ausführung Il-96-400M, von der immerhin ein Prototyp existiert, ist die Maschine mit ihren vier Triebwerken und Drei-Personen-Cockpit schon heute von gestern.

Aeroflot beteiligt sich an der Diskussion öffentlich nicht. Russlands renommierteste Airline verweist gern darauf, „eine der jüngsten Flotten der Welt“ zu betreiben. Aktuell liegt der Altersdurchschnitt der Flugzeuge demnach bei sieben Jahren. Zumindest aus Altersgründen besteht also selbst über 2030 hinaus kein unbedingter Handlungsbedarf, eine qualifizierte Wartung vorausgesetzt. Doch die Fluggesellschaft, mehrheitlich in Staatsbesitz, trägt den offiziellen Kurs, sich unabhängig von Westimporten zu machen, mit.

Bescheidenere Ziele

Bis 2030 soll die Flotte der Aeroflot-Gruppe von heute 354 auf über 500 Flugzeuge wachsen – 70 Prozent davon aus einheimischer Produktion. So steht es in einem kürzlich vorgestellten Strategiepapier. Die Zielmarken sind zum Teil aber sehr viel zurückhaltender formuliert als noch 2020, als ein Acht-Jahres-Plan aufgestellt wurde. Bis 2028 sollte die Zahl der Passagiere demzufolge auf 130 Millionen steigen. Jetzt ist nur noch von der Hälfte die Rede, und selbst dafür gibt man sich zwei Jahre mehr Zeit.

2022 zählten die drei Fluggesellschaften 40,7 Millionen Passagiere, 11,1 Prozent weniger als im Jahr davor. Innerhalb der Gruppe schlug sich Aeroflot mit einem Minus von 4,2 Prozent am besten, während Pobeda mit einem Rückgang von 18,7 Prozent noch schlechter als der Gesamtmarkt abschnitt. Dabei sollte gerade der Billigflieger als Wachstumsmotor der Gruppe dienen und zur größten Fluggesellschaft Russlands aufgebaut werden. Das scheint sich vorerst erledigt zu haben.

Für 2030 wird ein Marktanteil von 2030 unter Berücksichtigung in- und ausländischer Mitbewerber angestrebt. Dafür will Aeroflot auch seine Präsenz in den Regionen ausbauen. Zum ersten, Mitte 2021 eröffneten Hub im sibirischen Krasnojarsk sollen bis 2026 weitere drei hinzukommen.

Tino Künzel

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