Der Gouverneur von Nischni Nowgorod nannte es ein „epochales Ereignis“, was sich am 4. April vor seiner Haustür abspielte. Gleb Nikitin hat seinen Sitz im Kreml der Millionenstadt. Dort, wo der Kaufmann Kusma Minin einst eine Volkswehr formierte, um das Moskauer Reich zu Beginn des 17. Jahrhunderts vor Fremdherrschaft und Zerfall zu retten, wurde nun die Vorstellung eines russischen PC-Action-Rollenspiels über diese bewegte Zeit in Szene gesetzt. Anschließend fand im Kreml hoch über der Wolga aus gegebenem Anlass gleich noch ein dreitägiges historisches Festival statt, während im Internet der Verkauf des Spiels auf der Plattform VK Play zum Preis von 2015 Rubel (etwa 20 Euro) begann.
Staatlich gepusht
Dass mit „Smuta“ durchaus auch politische Erwartungen verbunden sind, unterstrich bei der Präsentation der stellvertretende Bildungsminister Alexander Bugajew. In Russland mangele es an eigenem, patriotischem Content, zitiert ihn die Nachrichtenagentur TASS. Und weiter: „Wir richten heute große Aufmerksamkeit auf die historische Aufklärung, die Erziehung unserer Schüler. Aber diese Arbeit muss sich auf verständliche Formen stützen, mit denen die heutige Jugend etwas anfangen kann.“
Die Entwicklung des Spiels wurde vom Institut IRI, das im staatlichen Auftrag Aktivitäten fördert, die im Staatssinne sind, mit 490 Millionen Rubel (4,9 Millionen Euro) bezuschusst. Für ein ambitioniertes Projekt ist das grundsätzlich keine Unsumme. Dass allerdings überhaupt Haushaltsmittel in ein Computerspiel gesteckt werden, passiert nicht alle Tage. Und die Größenordnung ist auch für Russland ein Novum.
Für eine „patriotische Weltanschauung“
Man müsse der Welt zeigen, „Qualitätsprodukte“ stemmen zu können, sagt der Staatsduma-Abgeordnete Anton Gorelkin, Vizechef des Ausschusses für Informationspolitik. Bewiesen haben das russische Entwickler eigentlich schon längst. Titel wie „Tetris“, „Cut the Rope“, „IL-2 Sturmovik“ oder „Atomic Heart“ haben auch international für Furore gesorgt.
Allerdings ist die einheimische Spieleindustrie seit 2022 in etwa mit denselben Problemen konfrontiert wie die Filmbranche. Viele russische Studios haben ihre Arbeit daher ins Ausland verlagert. Nicht so Cyberia Nova aus Nowosibirsk. Für dieses relativ unbeschriebene Blatt ist „Smuta“ die erste eigenständige Arbeit. Eine Art russische Antwort auf „The Witcher 3“ oder „Assassin’s Creed“ hatte man dort im Sinn, als das Vorhaben 2020 noch ganz am Anfang stand. Die übergeordnete Mission beschrieb Studiodirektor Alexej Kopzew zuletzt so: „Unser Ziel ist es, das Interesse an der Beschäftigung mit Geschichte zu erhöhen, aber kurzweilig, interessant und mit unseren eigenen Mitteln. Wir möchten, dass unser Spiel ein weiteres Instrument der Bildung und der Herausbildung einer patriotischen Weltanschauung wird.“
Drama und Trauma
Als Smuta oder Zeit der Wirren wird eine der größten Existenzkrisen der russischen Geschichte bezeichnet. Drei falsche Thronfolger, ein polnischer Kronprinz als Zar, Missernten, Hunger, Anarchie und Gebietsverluste prägten die Jahre von 1598 bis 1613 zwischen der Rjurikiden- und der Romanow-Dynastie. Der Moskauer Kreml, 200 Jahre später noch einmal erfolglos von Napoleon besetzt, fiel in die Hände der polnischen Armee. Erst ein Heer von Aufständischen, das 1612 von Nischni Nowgorod über Jaroslawl nach Moskau zog, konnte die Okkupanten vertreiben und die Zentralgewalt wiederherstellen. Aus diesem Stoff ist so manche Oper, so mancher Film gemacht – und nun auch ein Computerspiel.
„Smuta“ ist von einer literarischen Vorlage inspiriert: Der 1829 erschienene Abenteuerroman „Juri Miloslawski oder die Russen im Jahr 1612“ war ein Bestseller seiner Zeit. Miloslawski ist ein – fiktiver – junger russischer Adliger, der dem polnischen Zaren Wladyslaw die Treue geschworen hat, sich aber letztlich der Widerstandsbewegung anschließt.
Breites Echo, mehrheitlich Verrisse
Nach den ersten Kritiken in der Presse zu urteilen, hat die Adaption dieser Geschichte eher die Befürchtungen als die Hoffnungen bestätigt. Der Großteil der Rezensionen fällt nicht nur negativ, sondern geradezu vernichtend aus. So ist etwa in der Regierungszeitung „Rossijskaja Gaseta“ zu lesen: „In letzter Zeit hat die russische Industrie nicht wenige tolle Spiele ganz unterschiedlichen Kalibers herausgebracht. Deshalb sehe ich keinen Grund, mit „Smuta“ nachsichtig zu sein. Das ist kategorisch und eindeutig ein schlechtes Spiel. Ich kann niemandem empfehlen, dafür Zeit und Geld aufzuwenden.“
In einem Text auf Iphones.ru heißt es, „Smuta“ funktioniere nur als „Geschichtslehrbuch“. Man werde permanent mit Hintergrundwissen bombardiert, das wie die ständigen Dialoge keinerlei Bedeutung für den Spielverlauf habe.
Das Spiel lasse Gamer „kalt“, urteilt Playground.ru. Die Hauptfiguren seien platt geraten und die Handlung entwickele sich kaum, sodass man sich „nach fünf Stunden friedlich schlummernd mit dem Gesicht auf der Tastatur“ wiederfinde.
Das „Tinkoff-Journal“ fragt, wem „Smuta“ gefallen könnte. Die Antwort: „wohl niemandem“. Kritisiert wird das „primitive“ Gameplay und das „endlose Gerenne von hier nach da“. Ärgerlich sei auch die Darstellung der Gegner, seien es nun Polen, Deutsche oder Schweden, „ausschließlich als Schurken“.
… und ein wenig Lob
Cyber.sports.ru spricht von einem „Fiasko“ und hätte sich mehr Demut bei der PR gewünscht. Immerhin aber wird wie von vielen anderen das detailreiche und atmosphärische Design gelobt. „Smuta“ sei damit das „derzeit schönste russische Spiel“. Eine „Augenweide“, findet auch Goha.ru. Allerdings bleiben die so aufwendig gestalteten mittelalterlichen russischen Ortschaften mit ihren Bewohnern weitgehend Dekoration: Eine Interaktion ist kaum vorgesehen.
Sogar der Abgeordnete Vitali Milonow schimpfte das Spiel auf seiner VK-Seite ein „Machwerk“ und „Pfusch“. Er würde sich nicht wundern, schrieb Milonow in seinem Stil, wenn die Entwickler von polnischen Geheimdiensten angeworben worden seien: Unabsichtlich könne so eine miese Qualität ja niemand abliefern.
Tino Künzel