Iwanowo: Ein Reservat der Avantgarde

Rund 300 Kilometer nordöstlich von Moskau liegt Iwanowo, früher bekannt als das führende Textilzentrum und die „Stadt des Ersten Sowjets“. Doch die „dritte proletarische Hauptstadt“ lockt Besucher vor allem mit ihrem „Roten Faden“ - einer touristischen Fußgängerroute voller Industriearchitektur und Denkmäler des Konstruktivismus.

Das Hufeisenhaus ist ein interessantes Beispiel für experimentellen Wohnungsbau. (Foto: Natalia Letunowa)

Iwanowo ist wahrscheinlich die am meisten unterschätzte Stadt auf der Touristenroute Goldener Ring in Russland. Sie ist völlig anders als die benachbarten alten russischen Städte wie Wladimir, Susdal oder Kostroma. Sie wird oft als „die sowjetischste Stadt“ Russlands bezeichnet. Es liegt daran, dass Iwanowo während der Sowjetzeit, ab Mitte der 20er Jahre, aktiv aufgebaut wurde und bis heute eine große Anzahl von Architekturdenkmälern der sowjetischen Avantgarde erhalten geblieben ist. „Hier gibt es Wohnviertel, Verwaltungsgebäude, öffentliche Gebäude und Fabriken“, sagt Sergej Kusnezow, Reiseleiter in Iwanowo für das Projekt „Moskau aus der Sicht eines Ingenieurs“. Es umfasst einige der besten Beispiele der industriellen Avantgarde, die in Iwanowo zu sehen sind. Unter anderem sind das die Textilfabrik „Krasnaja Talka“ und die „Dserschinski-Fabrik“, die zu den ersten Fabriken gehörten, die in der Sowjetunion nach den Prinzipien des Konstruktivismus gebaut wurden, mit Stahlbeton und fast durchgehender Verglasung.

Reiseleiter auf der Touristenroute „Roter Faden“ (Foto: Natalia Letunowa)

Der einzigartige Bahnhof

Der beste Ort, um sich mit der Architektur von Iwanowo vertraut zu machen, ist der Bahnhof. Das ist der einzige und größte Bahnhof Russlands, der 1933 im Stil des sowjetischen Konstruktivismus erbaut wurde. Im Jahr 2020 wurde die Fassade nach einer umfassenden Rekonstruktion mit einer Kombination aus roten, grauen und beigen Farben restauriert, die für die Avantgarde-Architektur der 1920er und 1930er Jahre typisch sind. Die Säulen der „Blauen Halle“, die die Zeit des ersten Wiederaufbaus des Bahnhofs in den 1950er Jahren widerspiegelt, sind mit dekorativem Putz mit mit Textil-Ornamenten aus den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts bedeckt. Siw wurden in den Werkstätten der Textilmanufaktur von Iwanowo im Rahmen eines speziellen Auftrags für die Propaganda in den USA und in England hergestellt. Große Buntglasfenster sowie dekorative Elemente aus Gips und der Fußboden aus mehrfarbigen Mettlach-Fliesen wurden auch restauriert.

Der Bahnhof in Iwanowo (Foto: Natalia Letunowa)

Die „Rote Halle“ enthielt bereits vor dem Umbau farbige Elemente aus der letzten großen Renovierung in den 1980er Jahren. Die Mosaike und Tafeln im Übergang von der Blauen zur Roten Halle wurden sorgfältig restauriert, beleuchtet und eingerahmt. Die Übergänge zwischen den Hallen selbst wurden erheblich vergrößert, wodurch der Maßstab und die ursprüngliche Idee der ersten Architekten des Bahnhofs betont wurden. Zu den Schlüsselelementen der Roten Halle gehört die Gravur in der Mitte ‒ das Symbol der Olympischen Sommerspiele 1980. Heute finden hier Ausstellungen, Performances, Vorlesungen und andere Veranstaltungen statt.

„Trotz dieser Ergänzungen und Abweichungen vom ursprünglichen Design der 30er Jahre sieht der Bahnhof heute sogar noch avantgardistischer aus als damals“, so der Reiseleiter Sergej Kusnezow. „Meiner Meinung nach ist das ein ziemlich gelungener Kompromiss und die Bewahrung des kulturellen Erbes in einer Situation, in der wir den Bahnhof einfach hätten verlieren und etwas Neues und Unscheinbares hätten bekommen können“.

„Roter Faden“

Auf dem Bahnhofsplatz steht ein Denkmal für junge revolutionäre Frauen, ein kollektives Bild der Frauen von Iwanowo aus der Sowjetzeit.

Hier beginnt die touristische Fußgängerroute „Roter Faden“, ein einzigartiges Kulturprojekt der Stadt, das das sowjetische architektonische Erbe der 1920er bis 1930er Jahre vorstellt. Auf dem Abschnitt vom Bahnhofsplatz bis zum Platz der Revolution gibt es Informationsstände, an denen man das ursprüngliche Aussehen von vierundzwanzig Gebäuden sehen kann, die in der Zeit der rasanten Stadtentwicklung von 1925 bis 1936 entstanden sind. Informationen darüber sind über QR-Codes auf Russisch und Englisch verfügbar.

Erbe des Konstruktivismus: das Schiff-Haus (Foto: Natalia Letunowa)

Die interessantesten Projekte dieser Jahre sind die sogenannten architektonischen Metaphern: ein Schiff-Haus, ein Hufeisenhaus, ein Kugelhaus, eine Vogel-Schule. Die Schule, die nach dem 10. Jahrestag der Oktoberrevolution benannt ist, wurde von dem örtlichen Architekten Wassili Pankow entworfen. Die Tatsache, dass es sich um ein Gebäude in der Form eines Vogels handelt, ist nur aus der Luft erkennbar. Dieses Gebäude verkörpert die wichtigsten Merkmale des Konstruktivismus in Iwanowo. Das ist eine Kombination aus rotem Backstein und verputzten Wänden, die Stahlbeton imitieren. Einen optischen Akzent setzt der Aussichtsturm im linken Flügel des Gebäudes. In der Nähe befindet sich gewiss das berühmteste Haus der Stadt, ein vom Moskauer Architekten Daniil Fridman entworfenes Schiff-Haus. Zwei weitere symbolische Häuser wurden von der Vereinigten Staatlichen Politischen Direktion (OGPU) in Auftrag gegeben: im Kugelhaus arbeiteten Tschekisten, im Hufeisenhaus wohnten sie.

Vogel-Schule: Schulgebäude der frühen Sowjet-Ära (Foto: Natalia Letunowa)

Weitere Beispiele für Konstruktivismus

Zu den Perlen des Konstruktivismus in Iwanowo gehören außerdem das Gebäude des ehemaligen Hotels Zentralnaja am Platz der Revolution, ein Kommunehaus mit 400 Wohnungen, das für die Genossenschaft des Ersten Arbeiterdorfes entworfen wurde, das Umspannwerk Nr. 2 und der Palast der Künste, das ehemalige Bolschoi-Theater von Iwanowo.

Bis heute wird das Gesicht der Stadt von der Industriearchitektur aus rotem Backstein und den Meisterwerken des Konstruktivismus der 1920er und 30er Jahre geprägt. „Ich denke, eines der reizvollen Merkmale der Architektur von Iwanowo ist, dass sie eine sehr ganzheitliche Umgebung darstellt, und wenn man in die Innenhöfe der Wohngebäude geht, kann man sich in diese Umgebung der 20er, Anfang 30er Jahre hinein versetzen“, betont Sergej Kusnezow, Autor der Tour „Iwanowo. Ein Reservat der Avantgarde und Industriearchitektur“.

Anna Braschnikowa

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