Vodolazkins russisch-spiritueller „Medicus“

Es wütet gerade die Pest über Russland, als der kleine Arseni zum Waisen wird. Wir befinden uns im 15. Jahrhundert. Die Welt ist zwar karg und kalt, aber auch voller Metaphysik, traumähnlicher Prophezeiungen, wundersamer Heilungen und religiöser Visionen.

Medicus

Russisches Mittelalter live: Auf einem History-Festival im Gebiet Tjumen / RIA Novosti

Es wütet gerade die Pest über Russland, als der kleine Arseni zum Waisen wird und fortan von seinem Großvater, dem Kräuterheiler Christofor, am Rande des Dorfes Rukino aufgezogen wird. Wir befinden uns im 15. Jahrhundert. Die Welt ist zwar karg und kalt, aber auch voller Metaphysik, traumähnlicher Prophezeiungen, wundersamer Heilungen und religiöser Visionen.

Christofor spürt, dass dem Jungen besondere heilerische Kräfte innewohnen und er weiht ihn in die Geheimnisse der Medizin ein. Gemeinsam streifen sie durch die Wälder, sammeln Kräuter und abends liest Christofor aus religiösen Büchern vor. Als der Großvater bald verstirbt, ist Arseni auf sich allein gestellt. Nun suchen die Dorfbewohner ihn auf, er wird ihr „Christofor“, bei ihm suchen sie nach Heilung. Eines Tages, der schwarze Tod zieht wieder über Russland, trifft er die junge Ustina, kuriert sie aus und verfällt ihr. Für die Verliebten beginnt eine schöne Zweisamkeit. Doch das Glück will nicht lange bei ihnen weilen.

Die herausragende stilistische Leistung Vodolazkins ist es, altertümliche mit modernen Sprachformen bruchlos zu verweben. Zu Recht hat man ihn deshalb mit dem italienischen Romancier Umberto Eco verglichen. So wird das Mittelalter sehr lebendig. Vodolazkin beschreibt den Alltag, die Gebräuche der Zeit, die Heilrituale und die Beziehung zu Gott, die viel näher und klarer war, als heutzutage: „Christofor glaubte nicht eigentlich an die Pflanzen; eher glaubte er daran, dass jeder Pflanze Gottes Hilfe für eine ganz bestimmte Sache innewohnte. So wie auch jedem Menschen.“

Arseni verliert Ustina, verliert den gemeinsamen Sohn, der tot geboren wird, und nimmt die ganze Schuld auf sich. Er beschließt, sein Leben nur noch für die Beiden zu leben. Oder besser gesagt zu erleiden. So endet das „Buch der Erkenntnis“, einer von insgesamt vier Teilen des Romans. Arseni verlässt seine Heimat, zieht durch die verpesteten Dörfer, heilt die Kranken, sucht nach Vergebung, nach Vergessen.

Cover_Laurus_DruckAuch in Noah Gordons Mittelalterroman „Der Medicus“ zieht ein wundersam begabter junger Mann aus, um Arzt zu werden und die Menschen zu heilen. Er landet in der medizinischen Akademie Isfahans, öffnet dort verbotenerweise Leichen und bricht mit den Regeln. Im „Medicus“ preist Gordon den Kampf für naturwissenschaftliche Erkenntnis, erkämpft gegen eine Masse von Ignoranten. Vodolazkins Arseni dagegen sieht das Heilen als ein Wunder an, gegeben von Gott, und er weiß, dass Schuld nur durch eine innere Verwandlung abgetragen werden kann. Arseni rechnet seine Heilerfolge nicht auf, er geht den Weg der Wandlung, wird im „Buch der Entsagung“ vom Heiler zum Narr in Christo, der sich Ustin nennt, hört auf zu reden, entgleitet mehr und mehr der irdischen, körperlichen Welt, „als wonete er in einem frembden leibe…“. Im „Buch des Weges“ unternimmt er eine Pilgerreise nach Jerusalem, kehrt im „Buch der Ruhe“ nach Russland zurück, vollzieht seine Wandlung zum Mönch Amwrossi und nennt sich später, nachdem er das Große Schema empfangen hat, Laurus.

Mehrere Male „bricht“ Vodolazkin seine Hauptfigur, bricht den Handlungsfaden, bricht den linearen Zeitverlauf, lässt manche Vorausahnungen im Buch bis an die heutige Zeit anstoßen, versetzt den Leser in andere Ortschaften, umgibt ihn mit anderen Menschen. Traum und Realität vermischen sich. Ein Konglomerat aus Erinnerungen, Visionen und märchenhaften Handlungen machen es der gelungenen deutschen Übersetzung von Olga Radetzkaja nicht immer leicht, den Handlungsstrang nicht zu verlieren. Im Original spürt man diese Tiefe noch stärker, die Bedeutung des Altrussischen, die so wahr und ungekünstelt hervortritt und einen beinahe hypnotischen, tranceähnlichen Zustand hervorruft.

Vodolazkins Laurus ist ein zutiefst unmoderner Mensch. Während die vielen, die sich heute täglich neu erfinden, den Eindruck erwecken, als ob sie sich dadurch verlieren, findet Laurus durch seine inneren Wandlungen zu sich selbst. Seine Liebe zu Ustina hilft ihm dabei, die Zeit zu überwinden, bis sie schließlich keine messbare Bedeutung mehr hat, „relativ“ wird. Ein Buch für alle, die der russischen Seele näher kommen wollen.

Irina Kilimnik

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