Ja zum Nein: Warum viele Moskauer ihre Wohnaltbauten verteidigen

Das Programm zum Abriss von 4546 alten Vier- und Fünfgeschossern in Moskau ist zum Politikum geworden. Zwar befürworten nach Angaben der Stadt 90 Prozent der Bewohner die Pläne, doch laut ist vor allem der Widerstand: Die Gegner ihrer Umsiedlung artikulierten sich Mitte Mai auch auf einer Großkundgebung. Was ist der Grund für den Protest? Hier erzählt der Ingenieur Wladimir Djomkin (56), einer der Betroffenen und unser Kollege bei der MDZ, warum sein Haus fast geschlossen dagegen gestimmt hat.

Protest bis zum Horizont: Zur Demo gegen die Pläne für den Abriss der sogenannten Chruschtschowkas kam eine unüberschaubare Menge. / Jewgenij Feldman

Meine Frau war begeistert, als sie das erste Mal von dem Programm hörte. „Da machen wir mit“, sagte sie. Aber als sich dann nach und nach herausstellte, wie das Ganze ablaufen soll, war es mit der Euphorie schnell vorbei.

Umziehen ja, aber nicht um jeden Preis

Vor ein paar Wochen haben wir einen Brief von der Stadt bekommen, sowohl per Post als auch per E-Mail. Unterschrieben war er von Bürgermeister Sobjanin. Wir wurden informiert, dass unser Haus im Nordosten von Moskau zum Abriss vorgesehen ist und seine Bewohner zu gegebener Zeit in einen Neubau im selben Stadtkreis umgesiedelt werden, das Einverständnis der Hausgemeinschaft vorausgesetzt. Das schien eine gute Nachricht zu sein. Aber sie warf auch viele Fragen auf, was uns erwartet, wo unser neues Haus stehen soll, wie dort die soziale Infrastruktur sein wird und vieles mehr. Denn wir wollten durchaus nicht um jeden Preis umziehen. Im Gegenteil.

Die „Chruschtschowka“: Russlands erster Plattenbau hat ausgedient

Unser Haus ist tatsächlich alt, es wurde Ende der 30er Jahre für die Erbauer der Metro errichtet. Das Wohngebiet wird auch „Metro­städtchen“ genannt, es liegt zwischen der Jaroslawler Chaussee und der Elcheninsel, Moskaus größtem Waldgebiet. Als wir hier vor 24 Jahren eingezogen sind, war der Ziegelbau gerade grundlegend saniert worden. Er ist auch heute in einem guten Zustand. Unsere Drei-Zimmer-Eigentumswohnung hat zwei Balkons, eine relativ große Küche und Parkettfußboden. Die Außenwand ist bis zu einem Meter dick, was bedeutet, dass unsere Wohnung im Winter schön warm und im Sommer schön kühl ist. Das erste Stockwerk ist unbewohnt, dort befinden sich ein Fitnessstudio und ein Zeichenzirkel für Kinder.

Gewachsenes Viertel im Grünen

Mir gefällt unser Wohngebiet. Es ist alles zum Leben da: zwei Schulen, in die unsere beiden Söhne einst gegangen sind, vier Läden, bis zur Poliklinik haben wir es auch nicht weit. Die Innenhöfe sind groß und bieten genug Platz zum Spielen für die Kinder. Und das Beste: Wir wohnen praktisch im Grünen, haben die Elcheninsel vor der Haustür, wo man wunderbar spazierengehen kann, auf Schritt und Tritt Eichhörnchen begegnet und hin und wieder sogar einem Elch. Das alles gibt man nicht ohne Weiteres auf.

Wir waren also gespannt, was uns die Stadt im Tausch dafür anbieten würde. Und haben schnell begriffen: Außer Propaganda war so gut wie überhaupts nichts klar. Die Stadt verspricht, dass sie eine neue Wohnung im selben Stadtkreis zur Verfügung stellt, dass diese mindestens genauso groß sein wird und dass es sich um einen Neubau handelt. Aber konkretere Antworten? Fehlanzeige! Sobjanin spricht von „komfortablem Wohnraum“. Da haben wir uns bei der Eigentümerversammlung angeschaut und gelacht: Komfortabel wohnen wir auch jetzt schon.

Deshalb wollten wir schon genau wissen, wie es mit uns weitergehen soll. Ich zum Beispiel würde mir zweimal überlegen, ob ich in eines dieser Wohnhochhäuser umziehe, die anstelle der niedrigen alten Bebauung errichtet werden sollen. Dort hat man meistens keine richtigen Innenhöfe mehr und außerdem viel mehr Leute auf einem Fleck. Da lob ich mir meinen Viergeschosser mit seinen vier Treppenaufgängen und zwei Wohnungen pro Etage, also 24 insgesamt. Man grüßt sich, kennt sich, die Kinder haben auf dem Spielplatz zusammen gespielt oder sind zusammen in die Schule gegangen. Es würde uns schwerfallen, uns mit der Anonymität eines Hochhauses anzufreunden.

Lackfabrik und Militär als Nachbarn

Mündlich hat man uns zwei mögliche neue Wohnadressen genannt. Das eine Grundstück ist ebenfalls direkt am Wald, aber in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer Lackfabrik und einer Garnison, der auch das Gelände gehört und die wohl nicht bereit war, es so einfach abzutreten. Das zweite Grundstück liegt direkt an der Bahnlinie Moskau Jaroslawl. Dort sollte schon mal gebaut werden, aber dann ist irgendetwas schiefgegangen.

Das klang alles dermaßen vage, dass sich darauf niemand von uns einlassen wollte. Nach den Bestimmungen des Programms müssen zwei Drittel der Bewohner für den Abriss stimmen, ansonsten bleibt das Haus verschont. Bei uns waren mit einer Ausnahme alle dagegen! Wir haben dann einen Brief an die Stadtverwaltung geschrieben. Kaum eine Woche später hat man unser Haus von der Liste gestrichen.

Dabei will ich überhaupt nicht bestreiten, dass der Abriss alten Wohnraums sinnvoll sein kann, vor allem dann, wenn der nicht mehr sanierbar ist. Als Erstes müssten meiner Meinung nach die Kommunalkas an der Reihe sein, wo die Leute bis heute in Gemeinschaftswohnungen leben. Im 21. Jahrhundert ist das einfach ein Anachronismus.

Generell hätte man das Ganze einfach viel besser vorbereiten müssen. Es ist ja noch nicht mal das Gesetz über das Programm verabschiedet, viele rechtliche Aspekte sind offen. Wir sollten quasi die Katze im Sack kaufen und Ja oder Nein zu etwas sagen, das noch jede Menge Unwägbarkeiten birgt. Da konnten wir nur mit Nein stimmen. Die Ungewissheit hat alle abgeschreckt. Denn wer will sich schon verschlechtern, wenn es um das Wohneigentum geht?


„Wir sind unabreißbar“

Die Organisation „Weißer Zähler“ hat bei der Protestaktion am 14. Mai auf dem Sacharow-Prospekt mehr als 20.000 Teilnehmer ermittelt – so viele erfassten Freiwillige an den Eingängen. Es war damit eine der größten Demos der letzten Jahre. Einige der markantesten Losungen auf den Transparenten.

„Wir lassen uns Moskau nicht kaputtmachen“

„Mein Haus ist meine Festung“

„Renovieren statt Abreißen“

„Keine Beglückung mit Gewalt“

„Wenn ein Chirurg gesucht wird, ruft man keinen Schlächter“

„Wir sind unabreißbar“

„Gegen Enteignung“

„Wir sind Eigentümer und entscheiden selbst, wo wir wohnen wollen“

„Gegen die Hochhausdschungel“

„Wir sind für ein Moskau mit niedriger Bebauung“

„Ich will nicht ins Ghetto“

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