Die „Chruschtschowka“: Russlands erster Plattenbau hat ausgedient

Sie ist so berühmt wie berüchtigt: Russlands älteste Serien­immobilie, die „Chruschtschowka“, war eine soziale Wohltat, aber als erstes Kind des Massenwohnungsbaus auch mit vielen Geburtsfehlern behaftet. Jetzt sollen die Fünfgeschosser aus den 50er und 60er Jahren landesweit abgerissen werden – allein in Moskau betrifft das 8000 Häuser. Doch im Vergleich zu dem, was an ihre Stelle treten soll, sind sie im wahrsten Sinne des Wortes das kleinere Übel.

Chruschtschowka

Poklonnaja-Straße 8 in Moskau: Fünfgeschosser aus dem Jahre 1962. Im Hintergrund ein Businesscenter. / Tino Künzel

Nikita Chruschtschow, von 1953 bis 1964 der mächtigste Mann der Sowjetunion, ist schon seit 46  Jahren tot. Sein Erbe jedoch lebt, wenn auch vielfach mehr schlecht als recht. Überall im Lande stehen bis heute fünfgeschossige Wohn­blöcke, die der Volksmund „Chrusch­tschowkas“ getauft hat, weil sie unter Stalins Nachfolger als Parteichef schnell und billig hochgezogen wurden. Die Küchen in ihnen waren so winzig, dass nicht einmal ein Kühlschrank darin Platz hatte. Auf Fahrstühle und Müllklappen wurde verzichtet, anfangs auch auf Balkons. Dafür aber ließen sich die Häuser – zunächst nur Platten-, später auch Ziegelbauten – innerhalb von 15 Tagen errichten. Das half, die Wohnungsknappheit in den Städten zu bekämpfen, die durch die Industrialisierung entstanden und durch den Krieg verschärft worden war. Millionen russische Familien, die in Kommunalkas und Baracken gelebt hatten, verdankten den „Chruschtschowkas“ ihre erste eigene Wohnung.

„Chruschtschowka“ in der nordrussischen Stadt Workuta. / Tino Künzel

Da wäre zum Beispiel das Haus Nummer 78 am Oktober-Prospekt in der Provinzhauptstadt Syktyw­kar. Hier wuchs in einer Zwei-Raum-Wohnung Ende der 60er Jahre ein gewisser Roman Abramowitsch auf, der es später als Unternehmer zu Reichtum und Einfluss bringen sollte. An den Wohnverhältnissen von Abramowitsch, der als Besitzer des FC Chelsea heute in London zu Hause ist, hat sich seitdem viel verändert, am Haus Nummer 78 in Syktywkar nicht.

Ortswechsel: der Kutusow-Pros­pekt in Moskau, eine Luxusmeile, gesäumt von teuren Geschäften und Wohnbauten im Stalinschen Monumentalstil. Gleich dahinter, im Schatten der ganzen Pracht, finden sich „Chruschtschowkas“, so wie etwa auf der Poklonnaja-Straße 8. Das Haus mit seinen vier Eingängen ist Baujahr 1962 und hat 186 Bewohner. Überragt wird es neuerdings von drei Bürotürmen eines Businesszentrums namens „Poklonka Place“ und wirkt ein bisschen wie ein Fundstück aus grauer Vorzeit, freigelegt von Archäologen. Nun muss es aller Voraussicht nach weichen.

Die Moskauer Stadtregierung hat wieder einmal grandiose Pläne. Diesmal sind sie sogar so gran­dios, dass die Entscheidungsfindung als Zwiegespräch zwischen Bürgermeister Sergej Sobjanin und Präsident Wladimir Putin inszeniert wurde. Putin war dabei die Rolle des Ideengebers vorbehalten: Es sei wohl das Beste, nicht länger Geld in die Sanierung der „Chrusch­tschowkas“ zu stecken, sondern sie einfach durch zeitgemäße neue Wohnbauten zu ersetzen, sagte er vor Fernsehkameras. Sobjanin fand das, na klar, eine gute Idee. Die Fünfgeschosser seien von Anfang an als Provisorium angelegt gewesen, heute seien altersschwach und wenn nicht schon jetzt, dann in 10 bis 20 Jahren garantiert baufällig.

Moskau hat Erfahrung mit dem Abriss der „Chrusch­tschowkas“. In den vergangenen 17 Jahren waren 1722 davon zum Abriss vorgesehen, vor allem die ältesten Exemplare. Das Programm ist offiziellen Angaben zufolge nach jetzigem Stand zu über 95 Prozent umgesetzt und soll 2018 abgeschlossen sein.

Das ist jedoch noch gar nichts gegen die sogenannte „zweite Welle“, die danach beginnen soll.  Sie umfasst alle restlichen „Chruschtschowkas“ in der Stadt: 8000  Häuser mit einer Wohnfläche von 25 Millionen Quadratmetern, ein Zehntel des gesamten Wohnraums in Moskau! Das bedeutet für 1,6 Millionen Menschen, dass sie umziehen müssen – oder dürfen, je nach Perspektive. Hat es eigentlich jemals in Friedenszeiten etwas Vergleichbares gegeben?

Die Stadt verspricht, alle Betroffenen in noch zu errichtende Neubauten im jeweils gleichen Stadtbezirk umzusiedeln. Per Gesetz darf sich dabei niemand bei der Wohnfläche verschlechtern. Das Programm ist auf acht Jahre angelegt, Experten rechnen eher mit mehreren Jahrzehnten. Die Kosten werden von der Stadt mit 3,5 Trillionen Rubel veranschlagt, umgerechnet 56 Milliarden Euro. Das entspricht ungefähr dem finanziellen Aufwand, den Russland für die Olympischen Winterspiele in Sotschi betrieben hatte. Abgerissen werden sollen nur Wohnviertel, deren Bewohner sich mehrheitlich damit einverstanden erklären. Wie sie ihre Meinung artikulieren können, ist bisher unklar.

Sieht so wie hier am Moskauer Stadtrand die Zukunft nach den „Chruschtschowkas“ überall in der Stadt aus? / Tino Künzel

Bürgermeister Sobjanin wirbt bereits mit einer „ganz anderen Wohnqualität“, die Umsiedler in den künftigen Häusern erwarte. Damit soll Moskau auch zum Vorbild für die Regionen werden. Bei einer Sitzung des Staatsrats wird das Anfang Mai auf der Tagesordnung stehen. Auch Putin nimmt teil.

Doch die schöne neue Wohnwelt hat einen gewaltigen Haken: Die geplanten Neubauten in Moskau sind nicht etwa eine moderne Ausführung der bisherigen Fünfgeschosser – es wird aufgestockt. In den Medien berichten Bauunternehmer, der bisherige „Chruschtschowka“-Ersatz sei im Schnitt 20 Etagen hoch. Ein Umdenken ist nicht in Sicht. Die Branche reibt sich öffentlich schon die Hände und spricht von einer Vervierfachung der Wohnfläche. Das schafft neben den Umsiedlern viel Platz für neue Wohnungskäufer. Im Westen gelten solche Hochhausviertel schon lange als Anachronismus, auch in Russland wächst seit Jahren die Kritik daran. Doch statt tatsächlich zum Trendsetter für ein menschlicheres Maß im russischen Wohnungsbau zu werden, setzt Moskau wieder einmal auf noch mehr Beton. Auch die ruhigen, grünen Hinterhöfe der gewohnten Fünfgeschosser dürften damit in absehbarer Zeit der Vergangenheit angehören.

Unter bunter Flagge machen Unzufriedene auf Facebook gegen den Abriss mobil. / Facebook

Laut einer aktuellen Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM sind vier Fünftel der von den Abrissplänen betroffenen Moskauer für das Programm. Gleichzeitig formiert sich seit dessen Bekanntgabe auch Widerstand. So hat sich beispielsweise eine Initiativgruppe namens „Moskauer gegen den Abriss“ gebildet, deren Facebook-Account 5500 Mitglieder zählt und die auch bereits diverse Protestaktionen veranstaltet hat. Zu ihren Losungen gehören „Hände weg von unseren Häusern!“, „Ich liebe meinen Fünfgeschosser!“ und „Für ein Moskau mit niedriger Bebauung!“.

Tino Künzel

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