Das Leben nach dem Überleben

70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges leben in den Ländern der einstigen Sowjetunion noch immer ehemalige KZ-Häftlinge. Wie in Saporoschje, einer Stadt in der Ostukraine. Sie werden nicht nur von ihrer Vergangenheit geplagt – auch die Gegenwart und der Krieg in ihrem Land bedrückt sie.

Von Thomas Arzner

War in vier Konzentrationslagern: Pjotr Suprun / Th. Arzner

War in vier Konzentrationslagern: Pjotr Suprun / Th. Arzner

Deutsche waren schon einmal hier, 1942. Damals besetzt die Wehrmacht die Stadt Saporoschje, ukrainisch Saporischja, am Dnjepr. Pjotr Suprun nahmen sie mit, weil er sich wie viele Jugendliche in dieser Zeit im Widerstand gegen die Besatzer engagierte. Erst kam er ins nahe Dnepropetrowsk, von dort aus sollte er als Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich gebracht werden. Bei der Stadt Tarnow, die heute in Polen liegt, konnte er entkommen – allerdings nicht für lange. Der 17-Jährige wurde wieder aufgegriffen und eingesperrt. Er kam nach Auschwitz – und später noch in die Konzentrationslager Buchenwald, Mittelbau-Dora und ins Außenlager Ellrich-Juliushütte.

Deutsche sind jetzt wieder da, im Sommer 2015. Dieses Mal haben sie Pjotr Suprun zum Essen eingeladen. Eigentlich ist er gerade mit Messer und Gabel beschäftigt, vor ihm Platten mit Blinis, also Pfannkuchen, Fisch, Wurst, Schnitzel, Gemüse und Pfirsichen. Trotzdem erzählt er den Leuten vom Maximilian-Kolbe-Werk, das KZ- und Ghettoüberlebende in Osteuropa unterstützt, seine Geschichte. Langsam kommen die Worte aus dem Mund des heute 88-Jährigen. Heiser und leise spricht er, nicht immer ist es leicht, ihn zu verstehen. Von all dem Leid, den Schlägen, den Demütigungen, die er ertragen haben muss, sagt er nichts. Er will sich lieber an die Momente erinnern, in denen er dem Grauen kurz entfliehen konnte – wie bei der Küchenarbeit in Mittelbau-Dora. Unten schälte er Kartoffeln, ein Stockwerk über ihm lagerten die Spirituosen. Einmal konnte er sich eine Flasche Wodka „organisieren“, wie das in der Lagersprache hieß. Nicht, um sie zu trinken. Er tauschte sie bei Mithäftlingen ein. Sie schöpften ihm dafür das Fett ab, das oben auf einer Brühe schwamm, die sie aus Knochen eingekocht hatten.

Auf einer Liste bestätigen die KZ-Überlebenden den Erhalt der Hilfe. Sie führt auch die Namen der jeweiligen Konzentrationslager und Ghettos: Majdanek, Ravensbrück, Flossenbürg / Th.Arzner

Auf einer Liste bestätigen die KZ-Überlebenden den Erhalt der Hilfe. Sie führt auch die Namen der jeweiligen Konzentrationslager und Ghettos: Majdanek, Ravensbrück, Flossenbürg / Th.Arzner

Pjotr Suprun ist einer von etwa 80 KZ- und Ghettoüberlebenden aus der Industriestadt im Osten des Landes mit ihren knapp 800 000 Einwohnern und der Oblast, also dem Kreisgebiet. Als eine Gruppe aus Haupt- und Ehrenamtlichen des Kolbe-Werkes vor acht Jahren schon einmal dort war – das Werk organisiert jedes Jahr etwa drei bis vier solcher Reisen in verschiedene Regionen der ehemaligen Sowjetunion –, konnten sie noch um die 300 Überlebende einladen, erzählt Danuta Konieczny. Sie hat im Vorfeld die Kontakte mit den Häftlingsvereinen vor Ort aufgenommen, unzählige Male telefoniert und die Listen mit den Überlebenden abgeglichen. Jetzt ist sie hier und gibt jedem von ihnen einen Umschlag mit 300 Euro. „Was ist das?“, fragt Pjotr Suprun – dass er Geld bekommt, hat er noch gar nicht realisiert oder schon wieder vergessen. „Ein Geschenk“, sagt die Mitarbeiterin.

Die meisten verwenden das Geld, um Arztbesuche und Medikamente zu finanzieren. Beides ist oft zu teuer für die Menschen dort. „Ich bekomme 1780 Griwna Rente“, erzählt Jewgenija Bojko. „Das sind nicht mal hundert Dollar“, rechnet die Vorsitzende des Vereins der ehemaligen KZ-Häftlinge in Saporoschje um. Es sind in der Tat nur 80 US-Dollar. Das reiche gerade so, um die Miete und ein paar Medikamente zu finanzieren – wenn überhaupt. „Ich selbst sollte mich eigentlich an den Augen operieren lassen, kann es mir aber nicht leisten“, erzählt die frühere Grundschullehrerin. Außerdem seien ihre beiden Söhne von der grassierenden Arbeitslosigkeit betroffen. Einer von ihnen müsse mit seiner Frau und seiner Tochter noch bei ihr wohnen, weil sie sich nichts Eigenes leisten könnten, sagt die 71-Jährige, die 1944 im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück geboren wurde. Ihre Mutter war wegen – wie es damals hieß – „kommunistischer Umtriebe“ dorthin gekommen.

Die Vorsitzende des Häftlings-vereins Jewgenija Bojko / Th. Arzner

Die Vorsitzende des Häftlings-vereins Jewgenija Bojko / Th. Arzner

Die Krise im Land macht ihre Lebensumstände nicht besser: Den Krieg 200 Kilometer weiter östlich bemerkt man auch in Saporoschje und Umgebung. Am Flughafen in Dnepropetrowsk laufen Fernsehspots in der Endlosschleife, in denen um Spenden für die ukrainische Armee geworben wird. An der Hauptstraße in Richtung Saporoschje steht ein Kontrollposten. Die Autos werden durchgewinkt, es hat den Anschein, als befürchte die Polizei derzeit nicht, dass Separatisten weitere Regionen infiltrieren. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen im Osten betreffen auch die ehemaligen KZ-Häftlinge: Sie sehen ihre Kinder und Enkel in den Kampf ziehen und manchmal nicht zurückkommen – das ist gerade für diejenigen besonders schlimm, die den Zweiten Weltkrieg und seine Schrecken erlebt haben.

„Das hat natürlich einen großen Einfluss auf die Psyche der Menschen“, schildert Jewgenija Bojko. Dazu kommt, dass die Krise alles teurer gemacht habe, während die Renten nicht gestiegen seien. „Seit den Demonstrationen auf dem Maidan in Kiew haben sich die Dinge verschlechtert“, sagt sie – und es klingt eher resigniert.

Viele der Überlebenden haben bei den drei Treffen, die an diesen zwei Tagen stattfinden, ihre Kinder oder Enkel mit einer Vollmacht geschickt, damit diese das Geld für sie mitnehmen – sie selbst sind zu schwach dazu oder bettlägerig. Allzu lange wird es solche Begegnungsprojekte wohl nicht mehr geben – Danuta Konieczny denkt schon darüber nach, wie man den Leuten helfen kann, wenn diese nicht mehr aus dem Haus können. Die, die noch gekommen sind, haben einen Verwandten dabei, als Stütze und Hilfe. Pjotr Suprun hat seinen Sohn Walerij mitgebracht, der ihm die acht Stufen von der Eingangshalle bis ins Hotelrestaurant hinunter hilft.

Als Pjotr Suprun damals aus dem KZ kam, wurde er sofort in die Rote Armee eingezogen. Später ging er als einfacher Arbeiter in eine Bahnwaggon-Fabrik zurück nach Saporoschje. Seinen Leidensweg hat er fast keinem erzählt – in der Sowjetunion galten die Überlebenden lange als Kollaborateure, die dem Feind geholfen haben. Sie verschwiegen also, was sie erlebten. Aus der Zeit im KZ habe er gelernt, nur an sich zu glauben, so Suprun. Das habe ihm auch in der Sowjet­zeit viel geholfen. Sein Sohn ergänzt, dass der Vater erst in den 1990er-Jahren, nach dem Ende der Sowjetunion, von der Haft berichtet habe. Da war das gefahrlos möglich. Auch die Mitglieder der Häftlingsvereine haben sich erst in dieser Zeit gefunden, durch Radiodurchsagen und Zeitungsannoncen.

Familie Gruntenko: der 90-jährige Leonid mit seiner Frau Olga (r.) und Tochter Natalija / Th. Arzner

Familie Gruntenko: der 90-jährige Leonid mit seiner Frau Olga (r.) und Tochter Natalija / Th. Arzner

Trotzdem, die Wunden sind bei vielen geblieben. Auch bei dem Mann, der in der Hotelhalle vor dem Restaurant auf die Organisatoren vom Häftlingsverein einredet. Es sei ungerecht, dass allen auf die gleiche Weise geholfen werde, beschwert er sich. Die KZ-Überlebenden hätten viel stärker gelitten, als die, die „nur“ als Zwangsarbeiter Dienst tun mussten, ereifert er sich. Danuta Konieczny und die anderen brauchen eine Weile, bis sie ihn beruhigt haben.
Zurück im Speisesaal, winkt Leonid Gruntenko von einem der Tische. Er will mit einem Deutschen sprechen. Da wird der Journalist auf einmal zum Botschafter. Gruntenko ist 90 Jahre alt, er ist mit seiner Frau Olga und seiner Tochter Natalija gekommen. Auch er war in mehreren Konzentrationslagern und musste als Zwangsarbeiter schuften. Seine Hände zittern, „Parkinson“, erklärt er. Dem Deutschen aber will er jetzt etwas schenken. Mühsam kramt er eine weiße Plastiktüte hervor. Es ist Schokolade darin.

 

Info

Maximilian-Kolbe-Werk

Der Verein mit Sitz in Freiburg hilft seit seiner Gründung 1973 den Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager und Ghettos. Im Kalten Krieg musste er sich auf Polen beschränken. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kamen auch Staaten der GUS dazu, unter anderem die Ukraine, Weißrussland und Russland. Das Werk organisiert neben den Hilfs- und Begegnungsprojekten vor Ort auch Reisen nach Deutschland und Kuraufenthalte, außerdem Zeitzeugenprojekte in Schulen. Weitere Infos unter www.maximilian-kolbe-werk.de

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