„Generation Putin“: Spiegel-Journalist begleitet die Lebenswege junger Russen

Etwa sieben Jahre berichtete Benjamin Bidder für das „Sturmgeschütz der Demokratie“ aus Moskau – so nannte und lobte man einst den „Spiegel“. Diesen Sommer ist Bidder in die Hamburger Zentrale des Nachrichtenmagazins gewechselt. Mit „Generation Putin“ erscheint nun sein erstes Russland-Buch.

Junge Russen sind mit Putin groß geworden / RIA Novosti

Junge Russen sind mit Putin groß geworden / RIA Novosti

Es ist erst drei Jahre her, da riefen etliche deutsche Redaktionen ihre Russland-Korrespondenten zurück nach Deutschland. Nicht weil die Arbeit gefährlich geworden wäre, aufgrund diplomatischer Verwicklungen oder ausschließlich wegen finanzieller Schwierigkeiten, hieß es damals. Der Grund war schlicht der, dass man in den Chefetagen vieler Medienhäuser zu der Meinung gelangt war, aus Russland gebe es zu wenig Relevantes zu berichten.

Was für ein Irrtum! Russland ist heute interessanter denn je für die deutsche Öffentlichkeit. In den vergangenen zwei Jahren erschienen unüberschaubar viele Bücher zum Land, zu seinen Bewohnern, seiner Politik, seinem Präsidenten. Zumeist mit dem gewagten Impetus, Russland erklären oder sogar verstehen zu wollen und zu können. Doch wie kann man ein ganzes Land „erklären“, seine mehr als 140 Millionen Einwohner „verstehen“?

Das soeben in Deutschland erschienene Buch „Generation Putin. Das neue Russland verstehen“ reiht sich in diese Hybris, folgt man allein dem arg effekthascherisch geratenen Titel, scheinbar ein. Geschrieben hat es Benjamin Bidder, von 2009 bis 2016 Moskau-Korrespondent von Spiegel Online – Deutschlands größtes Nachrichtenportal hielt damals an seinem Korrespondenten fest. Eine gute Entscheidung angesichts der bewegten Gegenwart – und auch angesichts der Einblicke, die Bidder so gewinnen und in seinem Buch nun teilen konnte.

Zwar nimmt sich der Autor nicht weniger vor als seine zahlreichen Kollegen. Er wählt jedoch einen anderen, erfrischenden Weg: Bidder doziert nicht. Stattdessen beschreibt er die Lage im Land, indem er diejenigen zu Wort kommen lässt, die das heutige Russland prägen und prägen werden. Dies sind die jungen Russen, die um 1991 geboren wurden, als die Sowjetunion zerfiel, und die man daher, wenn man denn will, als „Generation Putin“ bezeichnen darf. Sie selbst würden das vielleicht unterschreiben – oder sich dagegen wehren. Von einer homogenen Generation kann jedenfalls nicht die Rede sein.

Bidder begleitete seine Protagonisten über Jahre, folgte einem Teil ihres Lebensweges. Und wie von selbst ergibt sich aus den persönlichen Geschichten, Orten und Karrieren ein mit den sonst zu oft ungehörten Zwischentönen gespicktes Panorama eines Landes, das so heterogen und umtriebig ist wie seine Menschen und für Beobachter von außen deshalb zuweilen so verwirrend wirken kann. „Technologisch geht es in die Zukunft, ideologisch in die Vergangenheit“, beschreibt Bidder an einer Stelle diesen Eindruck, meint damit aber mehr als eine in der Tat spürbare Rückbesinnung der Politik auf die Rhetorik des Kalten Krieges.

Benjamin Bidder: Generation Putin. Das neue Russland verstehen, Deutsche Verlagsanstalt, 2016.

Benjamin Bidder: Generation Putin. Das neue Russland verstehen, Deutsche Verlagsanstalt, 2016.

Da ist zum Beispiel die junge Tschetschenin Taissa, die unbedingt Reporterin werden will. Sie lebt in Grosny, der Stadt, in der innerhalb weniger Jahre aus Trümmerbergen Glaspaläste emporwuchsen. Von Moskau mit viel Geld, Rückendeckung und Freiheiten ausgestattet, hat es die dortige Führung vermocht, Stadt und Land wiederaufzubauen und auf den Weg in die Moderne zu schicken.

Andererseits wird Tschetschenien fraglos quasidespotisch geführt. Und war das Land einst vom säkularen Islam geprägt, gibt es heute Gesetze, die schon Erstklässlerinnen das Kopftuch vorschreiben. Manchen Jungen ist das nicht genug: Tschetschenen gelten als eine der wichtigsten Gruppen von Kämpfern, die sich der (in Russland verbotenen, Anm. der Red.) Terrorgruppierung „Islamischer Staat“ anschließen. Aufbruch in die Moderne hier, Aufbruch in die ideologische Vergangenheit dort. Und Taissas Zukunftsträume? Hat sie aufgegeben zugunsten der Familiengründung.

Auch Russland, anderer Ort: Sascha aus der Nähe von St. Petersburg, der geistig eingeschränkt ist und im Rollstuhl sitzt, kämpft für ein selbstbestimmtes Leben und dafür, in seiner eigenen Wohnung leben zu dürfen. Seine in alten, noch aus Sowjetzeiten stammenden Regularien feststeckende Heimleitung will von solchen Vorhaben jedoch nichts wissen und die Verantwortung nicht tragen – oft eine Ursache für Stagnation.

Sascha aber ist eine Kämpfernatur. Gegen Widerstände und trotz etlicher abschlägiger Gerichtsurteile, will er das System aufbrechen und modernisieren, mithin Verantwortung übernehmen – nicht nur für sich. Und wo man es am wenigsten erwartet, in der Stadtverwaltung, scheint er plötzlich in einem Beamten einen Verbündeten gefunden zu haben. Auch hier weht der Geist des Aufbruchs, auch hier gibt es Widerstände. Und Hoffnung.

Taissa und Sascha sowie die Patriotin Diana, die Oppositionelle Vera, der Individualist Marat und die Kollektivistin Lena, die Bidder alle begleitet hat, spiegeln das heutige Russland wider, das Bidder ein „neues“ nennen möchte. Auch wenn sein Buch insgesamt vielleicht ein wenig den roten Faden vermissen lässt, symbolisiert genau das am Ende doch, worauf es hinausläuft und was eigentlich selbstverständlich sein sollte: Es gibt nicht das eine Russland – auch wenn das so schön einfach wäre.

Wenn schon die große Politik unerreichbar scheint, wie es Lenas Karriere nahelegt, die Opposition zerstritten und marginalisiert ist, wie es Veras Lebensweg zeigt –zivilgesellschaftliches Engagement, wie es etwa Sascha und auch Marat verkörpern, das zeigen Bidder und seine Protagonisten, ist das Spielfeld, auf dem noch viel bewegt werden kann in Russland. Allerdings, das verdeutlichen die Geschichten der Tschetschenin und des Rollstuhlfahrers, in beide Richtungen. Lakonisch kommentiert Sascha: „Oft geht es zwei Schritte vor und einen zurück. Bedauerlicherweise ist es manchmal auch umgekehrt.“ Und darin ist Russland beileibe kein Sonderfall.

Dennis Grabowsky

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