16 Stunden in der Moskauer Metro

Ein Ticket, 14 Linien, 154 Stationen, 333,5 Kilometer: MDZ-Autor Paul Krisai ist einen ganzen Tag lang Metro gefahren.

MDZ-Autor Paul Krisai beim Metro-Marathon.

Das rote „M“ strahlt mir schon von der Ferne entgegen, während ich mir noch den Schlaf aus den Augen reibe. Noch nie war ich so früh an meiner Station Baumanskaja. Es ist 5 Uhr 30 und ein neuer Donnerstag beginnt. Neunzehneinhalb Betriebsstunden liegen vor mir, 333,5 Kilometer, auf denen ich sehen will, was man in der Moskauer Metro erleben kann, wenn man denn lange genug mit ihr fährt.

Meine 55 Rubel, etwas weniger als ein Euro, fallen in den Fahrkartenautomaten. Die Durchgangssperre gibt lautlos den Weg frei und ich sinke auf einer Rolltreppe tief in den Bauch der Stadt.

Die 1935 eröffnete Moskauer Metro befördert 2,4 Milliarden Passagiere pro Jahr und ist eines der weltweit am stärksten genutzten Transportsysteme. Einige ihrer Stationen sind als „unterirdische Paläste“ bekannt. Die Metro ist eine Stadt unter der Stadt, in der 36 000 Menschen arbeiten. Sie diente bereits als Luftschutzbunker, Lazarett und Kommandozentrale der Roten Armee. Sie erlebte Zugunglücke und Terroranschläge. Doch niemals kam der Metrobetrieb völlig zum Erliegen.

Mit einem Aufheulen fährt mein Zug ein. Ich setze mich in den ersten Waggon, wir fahren los und es passiert – nichts. Instinktiv will ich umsteigen und zur Arbeit fahren. Doch ich bin schon am Ziel. Also warte ich und studiere meine Mitfahrer: Den Mann mit blauen Kopfhörern, der sich beim Gähnen die Hand nicht vor den Mund hält. Die drei älteren Herren mir gegenüber, die in einer Reihe mit gesenktem Kopf vor sich hin dösen.

Plötzlich sitze ich alleine im Waggon. Ich muss eingeschlafen sein. Bringt der Zug mich jetzt ins Fahrzeugdepot? Beginnt jetzt mein großes Abenteuer? Wir halten im Tunnel an. Stille. Dann wechselt der Zug die Richtung und rollt zurück in die Endstation Pjatnizkoje Schosse. Wie enttäuschend. Das einzige, das sich verändert, sind die Durchsagen. Die Stationen sagt jetzt eine männliche Stimme an, während es stadtauswärts eine weibliche Stimme ist.

Um neun Uhr sind auf meinem Metroplan bereits 36 Stationen auf vier Linien abgehakt. Passiert ist immer noch nichts. Zeit für ein Frühstück. In der Station „Arbatskaja“, wurde mir empfohlen, gibt es eine kleine Kantine. Eine unscheinbare Tür führt direkt vom Bahnsteig in ein Lokal mit vier Tischen, das russische Hausmannskost für weniger als einen Euro pro Speise feilbietet. Ich entscheide mich für eine Kartoffelsuppe, zwei Sandwiches und einen Kaffee.

Ein seltenes Bild: Die Moskauer Metro abseits der Rush Hour.

Vier Stunden später bereue ich alles. In der Moskauer Metro gibt es keine einzige öffentliche Toilette. Langsam wird mein Bedürfnis dringend. Meine Kompromisslösung ist der Moskauer Zentralring. Die Bahnlinie ist offiziell die 14. Linie im Metrosystem. Ich erleichtere mich in der Zugtoilette. Das ist mir die zusätzliche Fahrkarte wert.

Um 15 Uhr habe ich 100 Stationen hinter mir und ich höre schlecht. 95 bis 100 Dezibel misst meine App bei voller Fahrt, etwa die Lautstärke eines Mixers. Ich sitze bald zehn Stunden in der Metro und frage mich, ob ich von diesem Experiment ernsthafte Schäden davontragen werde.

Immerhin gibt es Leidensgenossen. Es sind die Lieferanten, die mit großen Tragetaschen Essen zustellen. Einer von ihnen ist Amon aus Tadschikistan. Zehn Stunden am Tag fahre er mit der Metro, sagt er. An den Lärm habe er sich schon gewöhnt. Dann muss er weiter, die Cheeseburger in seiner Tragetasche werden kalt.

Günstige Kost gibt es in den Metro-Kantinen, wie etwa an der Station Arbatskaja.

Um 21 Uhr habe ich alle 14 Linien inklusive Monorail abgearbeitet, teils in voller Länge, 28 Mal Aus-, Um-, Einsteigen, 12 Endstationen, 154 Stationen insgesamt. Mir brummt der Schädel. In der Tuschinskaja steige ich aus und rufe einen Freund an, der in der Nähe wohnt. Wir treffen uns auf ein Bier.

Nach Hause fahre ich mit der letzten Metro. An der Station Barrikadnaja ist allerdings Schluss. Die Station wird bereits gesperrt und ich kann nicht mehr in meinen Anschluss umsteigen. Irgendwie erleichtert verlasse ich den Untergrund und rufe ein Taxi. Genug Metro für heute.

Text, Fotos, Video: Paul Krisai

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