
Telefonbetrüger haben sicherlich jeden Russen mindestens einmal angegriffen. Jeder weiß das, aber wenn man persönlich mit der Gefahr konfrontiert ist, hilft dieses Wissen nicht immer. Dabei sind es nicht unbedingt ältere Menschen, die den Telefonbetrügern zum Opfer fallen. Absolut jeder ist in Gefahr.
KI und Psychologie
Alles basiert auf Psychologie. Die Betrüger nutzen Gefühle wie Gier, Eitelkeit, aber am häufigsten Angst aus. Dazu kommt, dass wir alle gewohnt sind, nahestehenden Menschen zu vertrauen. Der eine reagiert positiv auf die Sprachnachricht eines Freundes mit der Bitte, ihm schnellstmöglich Geld zu überweisen. KI-Systeme erzeugen Stimmen nur unvollkommen, aber immerhin hören viele Menschen Nachrichten in Messengern mit Beschleunigung ab. Andere erhalten eine gefälschte Nachricht auf Telegram von einem Kollegen, in der es heißt: „Ein Ermittler hat mich nach dir gefragt. Er wird dich noch in Kürze anrufen, sei darauf gefasst.“
„FSB-Major“ vs. Chefredakteur
Nach einer solchen Nachricht hat der Verfasser dieses Textes über eine Stunde lang mit den Betrügern gesprochen. Es war früh genug klar, aber die Neugierde überwog. Das Szenario erwies sich als typisch. Ein „Major des föderalen Sicherheitsdienstes“ berichtete, dass in Zusammenarbeit mit dem Sicherheitsdienst der Bank ein Verbrechen aufgedeckt worden sei, nämlich die Überweisung einer großen Summe an Terroristen. Und der „Major“, obwohl er mit strenger Stimme spricht, glaubt immer noch an die Unschuld eines anständigen russischen Bürgers, aber Ordnung muss sein. Es ist notwendig, alles zu überprüfen, und zu diesem Zweck übergibt er die immer noch formal verdächtige, aber schon fast zum Opfer gewordene Person in die fürsorglichen Hände eines „Beamten des Finanzüberwachungsdienstes“.
Akzent verrät
Die Telefonbetrüger arbeiteten sehr sicher und professionell. Allerdings wusste der Autor dieses Textes um diesen Trick. Außerdem bemerkte er als gebildeter Sprachwissenschaftler die Besonderheiten der Rede seines Gesprächspartners. Mit einem solchen Akzent, wie bei dem Genossen „Major“, spricht man in Südrussland und im Osten der Ukraine.
Früher hatten die Bewohner russischer Gefängnisse die Nase vorn, wenn es um Telefonbetrug ging. In den Gefängnissen arbeiten ganze illegale Callcenter, die leichtgläubigen Russen Millionen von Rubeln abknöpften. Nach Ansicht von Experten kommt inzwischen jedoch der Großteil der betrügerischen Anrufe aus der Ukraine. Genauer gesagt aus der Stadt Dnipro, wo Hunderte von sogenannten „Büros“, nämlich betrügerischen Callcentern, tätig sind.
Sber-Bank bleibt wachsam
Bereits im Juni hat Stanislaw Kusnezow, stellvertretender Vorsitzender der Sber-Bank, in einem Interview mit „Iswestija“ eine erstaunliche Statistik vorgelegt. Ihm zufolge gibt es in der Ukraine etwa zwischen 350 und 400 betrügerische Callcenter, die es auf die Geldbörsen der Russen abgesehen haben. Der Finanzmanager hält die Situation beim Telefonbetrug für „kritisch“. Allein im vergangenen Jahr belief sich der von Betrügern verursachte Schaden auf 250 Milliarden Rubel. Diese Zahl kann man glauben oder anzweifeln: Kusnezow selbst zitiert Daten aus anderen Quellen. So beziffert die Zentralbank den Schaden für 2023 auf 16 Milliarden Rubel, während das Innenministerium eine Zahl von 157 Milliarden angibt. Das Ausmaß des Problems ist jedoch für jeden offensichtlich. Die russischen Bürger erhalten täglich 20 Millionen Anrufe von Kriminellen. Eine kürzlich durchgeführte Studie, der „Nationale Angstindex“, hat gezeigt, dass die Russen am meisten Angst davor haben, ein Terrorismusopfer zu werden und durch Telefonbetrüger ihr Geld zu verlieren.
Vom Opfer zum Terroristen
Ein weiteres häufiges Szenario der Täuschung ist die „Klärung“ von Informationen über die Rente. Wenn ein „Mitarbeiter der Rentenkasse“ vom Rentner einen Geheimcode bekommt, hackt er sich in ein Konto auf der Webseite der staatlichen Dienste ein und raubt eine ältere Person bis aufs Hemd aus. Aber der Verlust von Geld ist noch nicht das Ende der Geschichte. Danach wird das Opfer mit der Tatsache erpresst, dass es Geld an die ukrainische Armee überwiesen habe, und das ist bereits Staatsverrat. Die Betrüger versprechen, das Geld für einen „Gefallen“ zurückzugeben. Zum Beispiel, indem man einen Molotowcocktail durch das Fenster eines Militärkommissariats wirft. Medienberichten zufolge befinden sich unter den Molotowcocktail-Werfern auch Rentner. Der Nachhall des fernen Krieges erreicht die russischen Regionen auch in dieser Form.