Vom Global Player zum Start-up

Russlands Logistikbranche ist im Umbruch. Mittendrin: Perry Neumann (56). Der langjährige Russlandchef des Logistik-Riesen Kühne + Nagel hat seinem Ex-Arbeitgeber dessen Geschäft in Russland, Belarus, Kasachstan und Aserbaidschan abgekauft und führt das Unternehmen unter dem Namen Noytech weiter. Was ihn dazu bewogen hat und wie schwierig das Marktumfeld heute ist, da­rüber hat der Deutsche mit der MDZ gesprochen.

„Noystart“ als sein eigener Chef: Perry Neumann (Foto: Noytech)

Viele ausländische Unternehmen haben Russland im vergangenen Jahr verlassen. Wie einsam ist es um Sie als Deutschen im Kollegen- und Bekanntenkreis geworden?

Es hat tatsächlich einen großen Exodus gegeben. Aber viele Expats wollen auch in Russland bleiben. Bei Noytech haben wir heute im Vergleich zu den Zeiten von Kühne + Nagel eher mehr als weniger Ausländer. Das sind alles Leute, die schon lange in Russland sind, die den Markt, die Kultur, die Leute verstehen, die Russisch sprechen. Wobei man sagen muss, dass Russland schon lange kein wirklicher Expat-Markt mehr ist.

Inwiefern?

Im HR-Sektor hat sich so viel verändert, dass man eigentlich keine Ausländer mehr braucht. Vor allem keine, die man neu dazuholt und die sich hier nicht auskennen. Für mich war schon vor Jahren klar: Ich würde einen Ausländer lieber durch einen Einheimischen ersetzen. Als mir Kühne + Nagel 2006 den Job in Russland angeboten hat, war das noch ganz anders. Ich habe damals gefragt: Was wollt ihr mit mir in Moskau? Ich spreche kein Russisch, ich habe mich nie mit Russland befasst und keinen blassen Schimmer von dem Land. Da hieß es: Ganz egal, wir brauchen jemanden mit der westlichen Denke, der Rest kommt von allein.

Was haben Sie denn in Moskau für Bedingungen vorgefunden? Das Büro, in dem dieses Gespräch stattfindet, mit Aussicht auf die Olympiahalle und die Zentralmoschee, gab es damals wahrscheinlich noch nicht.

Nein, hier sind wir seit 2014. Als ich 2006 in Moskau angefangen habe, saßen wir in Altstadtgebäuden in der Nähe der Twerskaja-Straße. Das waren lauter kleine Zimmer! Dabei sage ich immer: Samoje glaw­noje – eto kommunikazija! Das Wichtigste ist die Kommunikation. Aber wie soll das gehen, wenn jeder in seiner Zelle eingesperrt ist?

2008 habe ich die Leitung von Kühne + Nagel in Russland übernommen und von meinem Vorgänger zwei Etagen im Lotte Plaza Business Center am Neuen Arbat als Firmensitz geerbt. Da saßen Unternehmen wie Walt Disney, TNK-BP und Bain drin. Auf der einen Seite hat man Moskau-City gesehen, auf der anderen den Kreml. Ein tolles Büro, aber ich fand, es hat nicht so richtig zu einem Logistiker gepasst. Wir sind ja ein sehr geerdetes Unternehmen.

Die Diamond Hall, unser jetziger Standort, ist immer noch Zentrum. Sie gilt aber nicht als nobel, obwohl mittlerweile unter anderem Banken und Fernsehsender hier eingezogen sind. Wir alle lieben dieses Office. Auch die Kunden­resonanz ist positiv.

An der Tür steht nun nicht mehr Kühne + Nagel, sondern Noytech. Im Sommer haben Sie das Russland- und GUS-Geschäft Ihres Ex-Arbeitgebers im Rahmen eines sogenannten Management-Buy-outs übernommen. Wie kam es dazu?

Wenn ich mal ein Buch über meine Zeit in der Logistik schreibe, dann nimmt 2022 garantiert einen besonderen Platz darin ein. Seit März durften wir keine Importe und Exporte mehr ausführen, das hat die Zentrale von Kühne + Nagel angewiesen. Später kam dann auch noch die Ansage, dass wir Kosten sparen und Personal abbauen müssen. Da wurden Entscheidungen getroffen, die wir alle nicht unterstützt haben.

Ich als Generaldirektor stand in der Verantwortung, hatte aber nicht mehr das Steuer in der Hand. Da stellte sich für mich die Frage: Wo geht die Reise hin, was mache ich in Zukunft? Ich hätte die Koffer packen und für Kühne + Nagel in einem anderen Land arbeiten oder mir einen ganz anderen Job suchen können. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte nicht der sein, der hier das Licht ausmacht, sondern weiterführen, was wir über eine so lange Zeit mit einem tollen Team aufgebaut haben.

Ich bin dann mit der Familie erst einmal ins Ausland gefahren, um Abstand zu gewinnen und die Situation aus der Distanz zu betrachten. Wir waren in Thailand. Ich habe in dieser Zeit von dort aus gearbeitet. Die Idee mit dem Management-Buy-out ist mir beim Schwimmen gekommen. Seit Juli sind wir Noytech Supply Chain Solutions.

Was ist aus dem Personalabbau geworden?

Ich habe mir gesagt: Wir kommen da durch. Ich will diese tollen Leute, von denen manche schon über zehn Jahre für uns arbeiten, nicht entlassen. Und heute? Da wachsen wir jeden Monat, die Profitabilität steigt. Wir haben sechs neue Firmen aufgemacht: drei in Russland, zwei in Abu Dhabi und eine in Hongkong. Wir haben 600 neue Mitarbeiter eingestellt und rekrutieren nach wie vor.

Die Mitarbeiter sind unser Kapital. Wir haben keine Assets. Unser Geschäft ist Service. Und Service sind Menschen. Viele Unternehmen sagen, wie wichtig die Mitarbeiter sind. Wir leben das. Natürlich wollen wir Geld verdienen. Aber erfolgreich ist man dann, wenn alles harmoniert.

Wie sind Sie von Neumann auf Noytech gekommen?

Wir hatten 298 Namensvarianten. Eigentlich wollte ich nichts haben, wo Perry oder Neumann drinsteckt. Aber letztlich hat das so gepasst. Noy ist die russische Umschrift für neu und steht so im Pass meiner Frau und meines Sohnes. Noy ist aber auch russisch für Noah. Und ohne zu tief in die biblische Geschichte einsteigen zu wollen, gefällt mir die Symbolik. Wir haben die Firma in einer schwierigen Situation übernommen und wollen gemeinsam dafür sorgen, dass sie eine Zukunft hat.

Wo sehen Sie Ihr Unternehmen am Markt positioniert?

Wir sind in gewisser Weise einzigartig, denn außer uns ist fast kein Global Player mehr im Lande. Und wir sind als lokales Unternehmen immer noch international ausgerichtet. Andererseits kommen wir zwar aus einem Großkonzern, sind aber heute eine Art Start-up. Trotz der langen Geschichte – im September 2022 hätte Kühne + Nagel auf 30 Jahre Russlandgeschäft zurückgeblickt – sind wir mittlerweile komplett abgenabelt von unserer Ex-Firma. Wir müssen unsere eigene IT implementieren, ein weltweites Partner-Netzwerk aufbauen. Und uns mit unseren inzwischen 1700 Mitarbeitern immer noch gegen viele, viele Wettbewerber behaupten.

Wie radikal hat sich das Logistikgeschäft in Russland im vergangenen Jahr verändert?

Sehr. In der Vergangenheit hat Containerverkehr per Schiff und Flugzeug eine große Rolle gespielt. Das ist im Prinzip zusammengebrochen. Die internationalen Con­tainerreedereien haben sich zurückgezogen, der Frachtverkehr in der Luft ist stark eingeschränkt. Es hat sich viel mehr auf die Schiene und Straße verlagert. Auch wir mussten uns umorientieren. Was früher eingespielt war, ist heute eine Herausforderung. Routen können sich wöchentlich ändern. Man braucht immer einen Plan B und C. Damit wird jeder Kundenauftrag zu einem kleinen Projekt, individuell zugeschnitten auf die jeweiligen Bedürfnisse unter den gegebenen Umständen.   

Stellen Sie sich vor, Sie wären mit Ihrer Firma in Deutschland tätig. Was wäre anders?

Deutschland ist ein Logistikland. Sehr standardisiert, sehr effizient, sehr produktiv. Man kann an dem einen oder anderen Schräubchen drehen. Aber die Infrastruktur steht. Davon sind wir in Russland immer noch weit entfernt. Infrastruktur ist ein Schlüsselproblem, der Zoll eine Wissenschaft für sich. Alles ist viel aufwendiger. Wo im Westen auch mal eine E-Mail reicht, braucht man einen Vertrag. Aber das heißt auch: Hier kann man noch etwas entwickeln.

Sie hatten nie Pläne, Ihre Zelte in Russland abzubrechen?

Ursprünglich war die Idee, mich nach drei bis fünf Jahren zu verändern. Die Firma hat mir auch mehrfach Jobs in anderen Ländern angeboten. Aber ich habe mich hier von Anfang an wohlgefühlt. Moskau ist mein Lebensmittelpunkt und wird es auch bleiben.

Ich habe 2011 eine Moskauerin geheiratet. Wir wohnen mit unseren Kindern im Grünen außerhalb der Stadt. Aus Russland wegzuziehen, haben wir immer mal wieder gedanklich durchgespielt und jedes Mal verworfen. Auch die meisten meiner Freunde sind mittlerweile Russen. Großartige Menschen! Die kann man auch um vier Uhr morgens anrufen, wenn man sie braucht. Wenn ich das in Deutschland mit Freunden mache, die ich seit 40 Jahren kenne, geht um vier Uhr schon mal keiner ans Telefon. Und wenn, dann nur, um mir zu sagen: Neumann, hast du sie noch alle?

Ein Professor der Yale-Universität hat eine „Liste der Schande“ angelegt, um westliche Unternehmen anzuprangern, die bis heute in Russland tätig sind. Was sagen Sie dazu?

Ich finde es traurig, dass wirtschaftliche Verbindungen, die über Jahrzehnte oder Jahrhunderte aufgebaut wurden, binnen weniger Monate kaputtgegangen sind, mal unabhängig von den Gründen, die dazu geführt haben. Aber es wird auch wieder eine Zeit der Annäherung kommen, eine Zeit, in der man miteinander redet. Samoje glaw­noje – eto kommunikazija!

Das Interview führte Tino Künzel.

Perry Neumann

Aufgewachsen in einem 900-Seelen-Dorf in Baden-Württemberg, zog Perry Neumann später nach Hamburg und von dort nach Moskau. Zur Logistik kam er nicht über ein Studium, sondern die duale Ausbildung. 17,5 Jahre war er für DB Schenker tätig, 1,5 Jahre für ABX Logistics, die damalige Logistiktochter der belgischen Bahn. Es folgten 16 Jahre für Kühne + Nagel in Moskau.

Neumann ist Vater von drei Kindern im Alter von zehn, acht und vier Jahren sowie einer 25-jährigen Tochter aus erster Ehe. Sie lebt mit ihrer Familie seit Kurzem ebenfalls in Moskau. Als Vorstandsmitglied bei der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer setzt sich Neumann unter anderem für die duale Ausbildung in Russland ein.

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