Unsichtbare Killer

Der Staat hortet Grippemedikamente, die Medien berichten in Dauerschleife und Moskauer Apotheken gehen die Atemschutzmasken aus: Das Corona­virus versetzt viele Menschen in Russland in Angst. Doch der Erreger ist kein Einzelfall: In der jüngeren Vergangenheit wurde das Land mehrmals von Epide­mien heimgesucht.

Russlands Ärzte kämpfen gegen ein Übergreifen des Coronavirus. (Foto: Jewgenij Jepantschinzew/RIA Novosti)

Pest

Sie wird durch Flöhe übertragen, führt in nur wenigen Tagen zum Tod und raffte im Mittelalter ein Drittel der Bevölkerung Europas dahin: Die Pest gilt vielen Menschen als Inbegriff tödlicher Seuchen. In der Sowjetunion wurde die hoch ansteckende Infektionskrankheit als Relikt der finsteren Vergangenheit gesehen und 1938 für ausgerottet erklärt. Doch die Seuche scherte sich um keine Deklarationen und suchte den kommunistischen Staat mit beängstigender Regelmäßigkeit immer wieder heim. Bereits 1921 brach im Fernen Osten des Landes zum ersten Mal die Lungenpest aus. Es folgten Infektionen in Moskau (1939), im südlichen Wolgagebiet (1946) sowie rund um Astrachan (1947–1948). Vor allem im Südkaukasus und den zen­tralasiatischen Republiken kam es immer wieder zu Pestwellen. Die letzten Krankheitsfälle wurden 1981 in Kasachstan und Usbekistan verzeichnet. Die breite Öffentlichkeit erfuhr von der Existenz des Schwarzen Todes allerdings nichts. Denn die Pest wurde in der Sowjetunion verheimlicht und firmierte in offiziellen Statistiken nur unter dem Kürzel „form11“. Seuchenexperten durften unter Androhung von Repressionen nicht einmal nächsten Angehörigen von ihrer Tätigkeit erzählen. Oft wurde Ärzten das Ziel ihrer kurzfristig angesetzten Dienstreisen erst auf dem Flugplatz mitgeteilt. Genaue Daten über die Zahl der Pest-Toten wurden erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion offiziell zugänglich. Demnach fielen der Seuche in den Jahren zwischen 1920 und 1989 insgesamt 2060 Menschen zum Opfer.

Meningitis

Bei einer Meningitis entzünden sich die Hirnhäute, das Gehirn sowie angrenzende Strukturen – daher auch die Bezeichnung als Hirnhaut­entzündung. Die vor allem durch Bakterien übertragene Krankheit verläuft in den meisten Fällen sehr schwer und kann gravierende Folgen wie lebenslange Taubheit und Störungen des zentralen Nervensystems verursachen. In ihrer viralen Form führt die Meningitis ohne Behandlung innerhalb weniger Stunden zum Tod. In der Sowjetunion wütete die bedrohliche Infektion vor allem in den 1930er und 1940er Jahren. Zu dieser Zeit litten durchschnittlich 50 von 100 000 Menschen an Meningitis. „Der Krankenstand war in diesen Jahren kolossal hoch“, urteilt die Mikrobiologin Tatjana Tschernyschowa gegenüber dem Geschichtsportal „Russkaja Semjorka“. „Als besorgnis­erregend gilt unter Ärzten bereits eine Quote von 2,9 Menschen pro 100 000 Menschen.“ Zur massenhaften Ausbreitung der Meningitis trugen vor allem die großen Migrationsbewegungen innerhalb des kommunistischen Staates bei. So wurden Millionen Menschen während der stalinistischen Repressionen beliebig auf der Landkarte verschoben, Freiwillige strömten in Massen auf die sozialistischen Großbaustellen. Aber auch die beengten Wohnverhältnisse dieser Periode begünstigten die schnelle Verbreitung der ansteckenden Krankheit. Vor allem Kasernen und große Baracken galten als Orte für die Übertragung. Nach dem Ende des Krieges konnte die Meningitis dann jedoch zurückgedrängt werden. Zu einem letzten größeren Meningitis-Ausbruch kam es in der Sowjetunion in den 1960er Jahren. Grund war ein aus China eingeschleppter Virus.

Grippe

Sie forderte mehr Opfer als der gesamte Erste Weltkrieg und gilt als schlimmste Seuche, die jemals über die Erde hinwegfegte: An der Spanischen Grippe starben zwischen 1918 und 1920 weltweit knapp 50 Millionen Menschen. Auch am revolutionären Russland ging die verheerende Pandemie nicht spurlos vorüber. So erreichte die todbringende Seuche im August 1918 das Gebiet, der von Gewalt und Bürgerkrieg geplagten Ukraine. Die Grippe verbreitete sich bis Kiew, um dann über Belarus auf die beiden Metropolen Petrograd und Moskau überzugreifen, wo sich jeder zweite Anwohner infizierte. Zu den bekanntesten Todesopfern der Krankheit zählt Jakow Swerdlow, der erste Präsident der russischen Sowjetrepublik. Insgesamt kostete die Seuche innerhalb eines halben Jahres rund 3 Millionen Menschen das Leben. Dies entspricht drei Prozent der damaligen Einwohnerzahl. Doch auch nach dem Abklingen der Epidemie blieben Grippe-Viren weiterhin eine Bedrohung. So wütete zwischen 1957 und 1959 auch in der Sowjetunion die weltweit grassierende Asiatische Grippe. Zeitweise waren bis zu 21 Millionen Sowjetbürger infiziert. Das nächste Mal schlugen die Influenza-Viren dann im Winter 1977 zu. Damals verbreitete sich mit rasender Geschwindigkeit eine Variante des Grippevirus, die vor allem Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis zu einem Alter von 25 Jahren meist nicht überlebten. Da die ersten Todesfälle in den sowjetischen Städten Chabarowsk und Wladiwostok festgestellt wurden, tauften Forscher die Krankheit auf den Namen Russische Grippe. Weltweit kostete der Erreger mindestens 300 000 Menschen das Leben. In der Sowjetunion blieben die genauen Todeszahlen jedoch unter Verschluss.

Cholera

Heftiger wässriger Durchfall und starkes Erbrechen: Die Cholera ist eine akute Magen-Darm-Infektion, die dem Körper einen halben Liter Wasser pro Stunde entzieht, zur völligen Austrocknung – und schließlich zum Tode – führt. Die heimtückische Krankheit tritt seit Jahrhunderten vor allem dort auf, wo Menschen kein sauberes Trinkwasser haben und unter schlechten sanitären Bedingungen eng zusammenleben müssen. Im von Chaos und Zerstörung gezeichneten Russland der Oktoberrevolution fand die Seuche daher idealen Nährboden. Jedoch errangen sowjetische Mediziner bald erste Erfolge im Kampf gegen die Cholera. Und nach einer letzten größeren Epidemie in der Ostukraine, dem Wolgagebiet, dem Kaukasus und Zentralasien (1942–1943) wurde die Krankheit für ausgerottet erklärt. Doch die Offiziellen hatten sich zu früh gefreut. Denn Anfang der 1960er Jahre brach die Cholera in Indonesien erneut aus. Schnell verbreitete sie sich über die ganze Welt und erreichte 1965 über Usbekistan auch die Sowjetunion. Umgehend wurden 9000 Soldaten entsandt, um die einzelnen Krankheitsherde im Süden der Republik unter Quarantäne zu stellen. Doch im Juli 1970 schlug die Cholera erneut zu. Zwei Studenten aus Batumi an der georgischen Schwarzmeerküste hatten sich mit der Krankheit infiziert. Rasch erfasste die Seuche weitere Hafenstädte und griff auf mehr als 20 Orte über. Auch im damaligen Leningrad und der Hauptstadt Moskau wurden einzelne Fälle registriert. Besonders betroffen waren die Hafenstädte Cherson und Astrachan. Allein im Astrachaner Gebiet erkrankten 1270 Bürger an der Cholera, 35 überlebten die Infektion nicht. Im Kampf gegen die Seuche wurde die Stadt von der Außenwelt abgeschnitten, der Schiffsverkehr auf der Wolga gestoppt und das Verlassen der Stadt nur noch nach strengsten medizinischen Kontrollen erlaubt. Die genauen Zahlen zur Epidemie von 1970 wurden anschließend verheimlicht.

HIV

HIV ist ein Problem des Westens, da war sich Anatolij Potapow ziemlich sicher. „Bei uns gibt es keine Grundlage für diese Krankheit“, erklärte der Gesundheitsminister der russischen Sowjetrepublik im Jahr 1986 in der Nachrichtensendung „Wremja“. „Denn in Russland gibt es keine Drogensucht und keine Prostitution.“ Dass der Politiker mit seiner Einschätzung gründlich danebenlag und das gefährliche Immunschwäche-Virus um die Sowjetunion keinen Bogen machen würde, zeigte sich zwei Jahre später. Damals registrierte der Arzt Andrej Koslow den ersten offiziellen HIV-Toten der Sowjetunion. Offiziell waren zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 30 Menschen im Land an Aids erkrankt. Und die Zahlen stiegen. Da der kommunistische Staat erst ab 1987 HIV-Tests durchführte, sind Informationen zu einer früheren Verbreitung der Krankheit nicht verfügbar. Jedoch gehen Experten des Moskauer Zen­trums für Suchtmedizin davon aus, dass sich bereits Ende der 1970er Jahre sowjetische Bürger erstmals mit HIV angesteckt haben könnten. Nach Meinung der Mediziner könnte das Virus bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr mit afrikanischen Gaststudenten übertragen worden sein. Mit über 100 000 Neuinfektionen pro Jahr stellt Aids bis heute ein großes Problem in Russland dar.

Birger Schütz

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