
Niemand kann Tino Künzels 20-jährige Arbeit in Moskau und seine Beziehung zur „Moskauer Deutschen Zeitung“ besser zusammenfassen als Tino selbst. Und er hat es getan. In den ersten Tagen des neuen Jahres lasen wir im redaktionellen Nachrichtensystem Feriengrüße, eine Geschichte über eine neue Wendung in seinem Leben und einen kleinen Rückblick auf seine 20 Jahre bei der MDZ.
„Ich kam vor etwas mehr als 20 Jahren zur Zeitung, im Sommer 2004, als der erste Chefredakteur noch im Amt war. Innerhalb eines Monats fanden in Russland vier große Terroranschläge statt. Und im Winter des darauffolgenden Jahres reiste ich mit meinem Kollegen Jens Mühling in das damals noch geschlossene Tschetschenien und sah die Ruinen von Grosny. Eine weitere einzigartige Reise fand 2012 statt: Als Teilnehmer einer Luxus- Pressetour der Russischen Eisenbahnen ging es für mich bis zum Baikalsee und nach Wladiwostok.“
Wir haben in den alten Ausgaben der MDZ geblättert. Ja, tatsächlich, im Heft 140 vom August 2004 taucht der Name von Tino Künzel zum ersten Mal im Impressum auf. Und in der nächsten Ausgabe, im September, erschien Tinos Name unter einem Artikel.
Es war ein Bericht über eine Autoshow in Moskau: ein Text, begleitet von vier Fotos. Damals waren sie noch schwarz-weiß, erst später wurden die Bilder in der Zeitung mehrfarbig. Schon in diesem Artikel erkennt man den Tino von heute: Das Wesentliche ist erfasst, ohne dass interessante Details verloren gehen. Und man merkt auch eine Prise Ironie.
Der Mann mit der Kamera
Tino als Fotograf ist ein besonderes Kapitel in der Geschichte der MDZ. Welches Thema auch immer mit Fotos illustriert werden muss, er scheint für alles eine Antwort zu haben. Russische Städte? Er hat sicherlich mehr von ihnen bereist als viele Russen (sicherlich mehr als einige Redaktionsmitglieder, die ihr ganzes Leben in Russland gelebt haben). Brauchen Sie ein Bild von Gorbatschow? Er hat auch von ihm Fotos gemacht. Zerstörte oder wiederaufgebaute lutherische Kirchen in der Wolgaregion? Sein Name steht unter den aussagekräftigsten Bildern in den Broschüren, die die Redaktion zusammenstellte. Und natürlich sind bei Tino immer Menschen in Fokus, ganz unterschiedliche Menschen, aber immer interessante.
Tino schrieb über eine der Begegnungen im Besonderen. „Gestern habe ich erfahren, dass Margarete Schulmeister verstorben ist. Vor 3,5 Jahren haben wir uns in St. Petersburg getroffen. Sie war damals 96 Jahre alt. Ich werde dieses Gespräch nie vergessen, auch wenn ich mich neben ihr wie ein ungebildeter Schuljunge fühlte. Aber ich weiß sehr wohl, was für ein Segen es ist, mit solchen Menschen zu sprechen. Die Arbeit bei der Zeitung gab mir diese Möglichkeit. Manchmal war es schwer zu glauben, dass ich so ein Glück hatte.“ Nach diesem Gespräch erschien in der MDZ der Artikel „Frau Schulmeisters große Reise durch das 20. Jahrhundert“ (s. Ausgabe 15 (550) September 2021). Er enthielt die Erinnerungen von Margarete Schulmeister von der Deportation der Wolgadeutschen vor 80 Jahren, dem Davor und Danach. Sie wurden in zwei Teilen, auf vier Seiten, veröffentlicht. Kein anderer Artikel in der Zeitung war so umfangreich. Was Interviews angeht, ist Tino definitiv ein großer Meister.

(Foto: Aus dem Archiv von Tino Künzel)
Fußballfan
Die Bezeichnung „Großmeister“ sollte jedoch nicht irreführend sein. Nicht Schach ist seine Leidenschaft, sondern Fußball. In Erinnerung an seine Reisen als MDZ-Korrespondent, „unter anderem an die Wolga und in Sibirien zu den Deutschen und zu den Nenzen in der Tundra“, erwähnt Tino auch eine Reise nach Madrid im Jahr 2019, wo er das Champions-League-Finale besuchen konnte. Das war ein netter Bonus zu seiner Hauptaufgabe: die Berichterstattung über das internationale Kinderprogramm „Football for Friendship“ von Gazprom.
Der Kinderfußball im Allgemeinen ist eines der Hauptthemen, die Tino in Russland beschäftigt haben. Viele Jahre lang hat er als Freiwilliger Kinderfußballmannschaften bei verschiedenen Turnieren begleitet. Er führte eine Art Bilderchronik von Kinderfußballvereinen aus den nördlichen Regionen Russlands. Auf die Frage „Wo bist du jetzt?“ war die Antwort „in Syktywkar“ oder „in Archangelsk“ häufiger zu hören als „in Moskau“.
Ein eigenes Kapitel mit dem Titel „Tino und der Fußball“ ist natürlich die Fußballweltmeisterschaft 2018 in Russland. Es war eine Sternstunde für das Land, zu der damals Menschen aus aller Welt gerne anreisten. Und es war die Sternstunde von Tino Künzel.
Eine gemeinsame Sache
Eines der Worte, die von Tino während der Fußballmeisterschaft am häufigsten zu hören waren, war „Nikolskaja“. Diese Straße im Zentrum Moskaus wurde damals zum Treffpunkt von Menschen aus verschiedenen Ländern. Heutzutage, angesichts der aktuellen geopolitischen Gegebenheiten, ist es sogar seltsam, sich an diese „Nikolskaja-Atmosphäre“ zu erinnern. Aber für Tino Künzel war (und ist zweifellos immer noch) diese Atmosphäre ein grundlegendes Moment. Ein häufiges Thema seiner Texte: die seltsame Abgeschiedenheit der Russen, ihre mangelnde Bereitschaft, selbst mit ihren Nachbarn zu kommunizieren. „Die Russen sind ja als kollektive Wesen bekannt, doch das gilt nicht pauschal, sondern nur im persönlichen Umfeld: Außerhalb des Familien-, Freundes- und Kollegenkreises bleibt in der Regel jeder für sich allein. Die Gemeinschaft funktioniert in Russland viel besser als die Gesellschaft. Was sich jenseits der eigenen Wohnung oder des eigenen Arbeitsplatzes abspielt, das liegt nämlich vielfach auch außerhalb des eigenen Horizonts.“
Seien wir ehrlich. Tino hat immer wieder darauf hingewiesen, dass es auch der Zeitung an dieser Atmosphäre von Gemeinschaft und „konzeptionellen Gesprächen“ mangelt. Der Vorwurf ist berechtigt: Bei der Bewältigung der täglichen Aufgaben verlieren die Menschen oft den Überblick über das große Ganze. Aber andererseits, wenn einer der Hauptteilnehmer solcher Diskussionen in der Republik Komi oder im Gebiet Wologda ist, wann sollte die Redaktion wichtige Themen besprechen?
Schrecklicher Tino
Dieser Text kommt nicht ohne ein wenig Pfeffer aus. Jeder, der das Glück hatte, bei der MDZ zu arbeiten, weiß, dass Tino kein Kuschelbär ist. Es ist schwierig, mit ihm zu streiten. Seine Überzeugung, dass er recht hat, verärgert viele Menschen. Was noch schlimmer ist, er hat oft tatsächlich recht. Wie schrieb doch der berühmte russische Schriftsteller Iwan Turgenew? „Unsere Fehler wachsen auf demselben Boden wie unsere Tugenden.“ Wenn man Tino Künzel kennt, fällt es leicht, an die Gültigkeit dieser Formel zu glauben. Seine Standhaftigkeit und Prinzipientreue sind ihm manchmal zum Verhängnis geworden. Aber sie retten ihn auch. Ohne diese Integrität gäbe es keinen solchen Mann und keinen solchen Journalisten.
Fortsetzung folgt
Jetzt geht er weg, der Tino. Kann man das als Endspiel bezeichnen, wenn wir zur Schachterminologie zurückkehren? Wir hoffen nicht. Die Redaktion arbeitet bereits an der nächsten Ausgabe und plant die weiteren Hefte. Und es wird auf jeden Fall einen Platz für Tino Künzels Beiträge darin geben. Zumal er versprochen hat, auf unserem Radar zu bleiben. „Ich werde der MDZ immer mit Wärme und Dankbarkeit gegenüberstehen. Das Positive in all den Jahren überwiegt bei Weitem das Negative. Ich hoffe, dass die Zeitung weiterleben und gedeihen wird, in welchem Format auch immer ihr euch entscheidet, sie weiter zu betreiben. Ich danke euch allen sehr für eure Menschlichkeit, für eure freundlichen Ratschläge und für eure Geduld mit mir. Ich habe nicht die Absicht zu verschwinden. Also schreibt, ruft an. Ohne Anlass oder mit Fragen bezüglich der Arbeit. Ich bleibe in Kontakt.“ Tino, du weißt, wo wir zu finden sind.
Sie haben das Wort
Als ehemaliger Stern- und Spiegel-Korrespondent bin ich voller Hochachtung vor der Leistung der Kolleginnen und Kollegen der MDZ, die mit wenig Ressourcen ein lesens- und liebenswertes Blatt machen. Ich mag insbesondere die abseitigen Geschichten und ziehe den Hut vor Top-Schreibern wie Tino Künzel und Frank Ebbecke. Für mich und viele andere Deutsche, die in Russland leben, ist die MDZ deshalb angenehme Pflichtlektüre.
Matthias Schepp, Vorstandsvorsitzender der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer, anlässlich des 25-jährigen Bestehens der MDZ im Jahr 2023
Tino Künzel. Sein Name ist schon beinahe historisch mit der Neuzeit-Geschichte der MDZ engstens verknüpft. Kollege Tino hat Konzept und Struktur des einzigartigen Blattes vehement und entscheidend mitgeprägt, oft auch gegen alle möglichen Widerstände leidenschaftlich und professionell verteidigt. In unzähligen Reportagen, aktuellen Berichten, mutigen Kommentaren und einfühlsamen Menschenbildern aus allen Regionen des russischen Riesenreiches hat er seine treue Leserschaft immer wieder in den Bann gezogen – in Wort und Bild, sauber recherchiert, unverwechselbar mit klarem Standpunkt und lesefreundlichem Schreibstil. Alles Gute, Tino, du hast deine Spuren hinterlassen.
Frank Ebbecke, MDZ-Autor
Wir waren lange Jahre stolz auf Tino und seine Arbeit in Moskau. Seit drei Jahren hat sich dieser Stolz in Sorge gewandelt. Sorge und Unbehagen z.B. über die unsicheren Wege nach Moskau, aber auch Sorge über den Umgang mit Ausländern in Moskau. Wir begrüßen ausdrücklich, dass er sich entschieden hat, seine Tätigkeit bei der MDZ zu beenden. Glücklicherweise hat sich hier ein Tätigkeitsfeld ergeben, dass Tino zusagt und, was ganz wesentlich ist, noch ein paar Jahre Rentenbeiträge bedeutet.
Rainer Künzel, Tinos Vater
Das erste Mal traf ich Tino 2011 in Saratow, bei einer Veranstaltung zum 70. Jahrestag der Deportation der Wolgadeutschen. Er reiste mit einer der Gruppen von Deutschen zu den Dörfern, in denen sie oder ihre Eltern vor der Deportation 1941 gelebt hatten. Ich begleitete diese Gruppe. Er bat mich immer wieder, länger in den Dörfern zu bleiben. „Lassen Sie die Menschen diese Luft atmen, auf diesem Land stehen, von dem sie so viele Jahre geträumt haben“, bat er. 2014 blieb er für einige Tage in meinem Haus. Jeden Abend fragte er mich über die Deutschen aus, darüber, wie wir hier leben. Und tagsüber war er in den ehemaligen deutschen Dörfern unterwegs. Er grüßte mich immer wieder, wenn er später in die Stadt Marx kam.
Sinaida Sterz, ehemalige Aktivistin des Deutschen Begegnungszentrums in Marx, Heldin des Artikels „Erzählt das bloß keinem“ von Tino Künzel
Tino ist als Journalist einzigartig: Er ist ehrlich, kritisch, sieht das Wesentliche, seine Materialien sind einprägsam. Er ist in gewissem Sinne altmodisch, ohne jeden modernen journalistischen Glanz. Sein Leben bei der MDZ war ein Wirrwarr von Widersprüchen: Ohne ihn schien die Zeitung unmöglich zu sein, wobei nicht selten die Gefahr bestand, die Deadline zu überschreiten. Er bringt alles auf den Punkt, was nicht ohne Kritik gegenüber Kollegen erfolgt. Aber all dies zeigt, dass er seiner Arbeit nicht gleichgültig gegenüberstand und eine große Zuneigung zur MDZ hatte. Seine Artikel über Russlanddeutsche sind hervorragend, obwohl dieses Thema keine Priorität bei ihm hatte.
Olga Martens, langjährige Herausgeberin der MDZ
Tino ist im täglichen Leben bescheiden und sogar geduldig. Er ist ernst, ich habe ihn noch nie laut lachen sehen. Tino ist sensibel, kann die Stimmung seines Gesprächspartners spüren. Er redet nicht viel, aber er ist auch nicht verschlossen. Er liebt Russland, auch wenn es für ihn hier nicht leicht war. Verabschieden Sie ihn nicht mit Pomp. Sagen Sie ihm, dass die Türen Ihrer Redaktion für einen so talentierten und professionellen Journalisten immer offen sein werden. Außerdem hat er gesagt, dass er von Zeit zu Zeit nach Russland kommen wird.
Nadeschda Fjodorowna, Vermieterin von Tinos Wohnung in Moskau
Tino kennt sich im Kinderfußball sehr gut aus. Viele Trainer im Nordwesten, in den Städten des Goldenen Rings von Russland und in anderen Regionen kennen ihn. Er ist ein Arbeitsfanatiker. Zuerst macht er tausende Fotos, dann geht er sie durch, um ein paar Dutzend Bilder übrig zu lassen. Er stellt sie ins Netz und erfreut damit alle Eltern der jungen Spieler. Aber das Erstaunlichste ist, dass er stundenlang mit den Kindern plaudern kann. Er spielt Brettspiele mit ihnen, läuft um die Wette und spielt natürlich Fußball – auf Rasen, auf Sand, auf Asphalt. Er kann im Meer planschen, sich austoben und so die Kinder begeistern. Es sind immer Kinder um ihn herum.
Oleg Semenzow, Trainer des Mini-Fußballklubs „Uchta“
Ich lernte Tino im Jahr 2014 kennen. Mein erster Eindruck von diesem Mann: aktiv, wissbegierig, kommunikativ. Es war interessant, mit ihm zu sprechen, denn er hat einen weiten Horizont und ist über die neuesten Ereignisse in unserem Land informiert. Der Artikel „Sie waren die Ersten“, der nach dieser Reise geschrieben wurde, war interessant, informativ und wahrheitsgemäß. Ich bewahre ihn immer noch auf. Tino als Fotograf ist ein extra Thema fürs Gespräch. Er ist ein Profi! Von seiner zweiten Reise in unser Dorf Nischnaja Dobrinka und das Naturschutzgebiet „Tscherbakowski“ 2023 hat er viele schöne Fotos mitgenommen, die er später in der Zeitung veröffentlicht hat. Mit dem Interview hat es meiner Meinung nach leider nicht ganz geklappt. Die Fragen von Tino waren knifflig. Ich liebe mein Heimatland. Mit Deutschen, ohne Deutsche … Als ein scharfsinniger Mann verstand Tino mich.
Ljubow Kapustina, Mitarbeiterin des Museums für die Traditionen und das Alltagsleben der deutschen Kolonien an der Wolga in Nischnaja Dobrinka
In diesem scheinbar sehr ruhigen und besonnenen Mann tobte immer eine kindliche Aufregung – sowohl bei der Vorbereitung von Zeitungsartikeln als auch bei Fußballschlachten mit Moskauer Kindern im Hinterhof. Deshalb sah ich ihn auch nie gleichgültig. Jeden Artikel, selbst die kleinste Notiz, nahm Tino mit dem Appetit eines Feinschmeckers in Angriff, dem ein exquisites Gericht serviert worden war. Das war das Geheimnis, warum er immer interessant zu lesen war.
Auf dieselbe Weise lernte er die russische Sprache. Er lernte sie gründlich, sorgfältig und wissbegierig. Ich erinnere mich, wie der Museumsmitarbeiter, den Tino gerade interviewt hatte, während einer Reise in der Stadt Myschkin zu mir sagte: „Das ist das erste Mal, dass ich einen Esten sehe, der so gut Russisch kann“. Meine Bemerkung, dass Tino eigentlich Deutscher sei, nahm er als Scherz.
Sergej Kosjakow, Freund und ehemaliger MDZ-Kollege von Tino
Nein, Tino ist nicht immer ernst, wie dieses Foto aus Grosny zeigt.
Igor Beresin und Olga Silantjewa