Im Dorfladen spricht man Deutsch

Magdalena Sturm arbeitete vier Jahre als Redakteurin des Institutes für Auslandsbeziehungen (ifa) in Omsk und sammelte in einem Blog Geschichten über das Leben der Russlanddeutschen aus Sibirien. Eine Auswahl ihrer Interviews erscheint nun in einer Broschüre. Wie es dazu kam.

Wo Deutsch noch Muttersprache ist: Blog-Autorin Magdalena Sturm zu Besuch bei Russlanddeutschen. /Foto: vitamin.de

Frau Sturm, erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Besuch in einem russlanddeutschen Dorf?
Ja, die erste Reise führte mich im Oktober 2015 nach Asowo, das Verwaltungszentrum des Deutschen Nationalkreises. Ich fuhr mit einer Bekannten mit der Marschrutka. Es gab also keine fixen Haltestellen, man musste dem Fahrer seinen Haltewunsch zurufen. Da wir die Gegend noch nicht kannten und für uns ein Dorf dem nächsten glich, fuhren wir viel zu weit. Als wir unseren Fehler bemerkten und den Fahrer baten anzuhalten, waren wir schon irgendwo im Nirgendwo. Vor und hinter uns nur sibirische Waldsteppe. Wir kamen wesentlich später als geplant in Asowo an. Dort trafen wir Jugendliche aus russlanddeutschen Familien. Sie sprachen gut genug Deutsch, um sich kurz vorstellen zu können. Dann haben wir aber Russisch gesprochen. Erst später habe ich Russlanddeutsche getroffen, für die der deutsche Dialekt noch die Muttersprache war.

Wie kam es dann zu Ihrem Blog?
Eine der ersten Russlanddeutschen, die ich interviewt habe, war die damals 26-jährige Olga Tefs. Sie erzählte, dass ihre Großeltern väterlicherseits deutschstämmig waren, aber früh verstorben sind und wenig über die Familiengeschichte bekannt war. In Olgas Pass steht unter Nationalität Njemka – also Deutsche. Sie begann zu recherchieren und durchforstete in der Puschkin-Bibliothek in Omsk die Listen mit Leuten, die im Zweiten Weltkrieg politischen Repressionen ausgesetzt waren. Dort war auch der Name ihres Urgroßvaters, und in den Archiven des FSB fand sie alte Dokumente und Fotos. Ihre Familiengeschichte fand ich sehr interessant, und ich begann, ähnliche Geschichten zu sammeln.

Was hat Sie bei der Beschäftigung mit den Russlanddeutschen am meisten beeindruckt?
Man muss es sich so vorstellen: die Weite der sibirischen Landschaft, die typischen Holzhäuser, Gemüsegärten und Banjas, die Marschrutkas, die russische Sprache – und plötzlich hört man irgendwo im Dorfladen deutschen Dialekt. Das hat mich jedes Mal wieder fasziniert. Besonders schön war auch eine gelungene Familienzusammenführung. Peter Luft, 1955 in Ludwigsburg geboren, hat sich auf der Suche nach seinen russlanddeutschen Verwandten an mich gewandt. Sein Cousin Alexander wanderte in den 1980er Jahren nach Deutschland aus, sein Cousin Nikolaj war in Sibirien geblieben. Während der Sowjetzeit, da Kontakte ins Ausland gefährlich waren, verlor man sich aus den Augen. Über ein Forum der Wolgadeutschen konnten wir Nikolaj ausfindig machen und im April 2019 gab es ein Wiedersehen der drei Cousins in Omsk – nach über 30 Jahren.

Bei der Recherche: Magdalena Sturm in einem deutschen Dorf im Deutschen Nationalkreis Asowo in Westsibirien. /Foto: vitamin.de

Wie kamen Deutsche überhaupt in das abgelegene Omsk – und warum haben sie mit dem Deutschen Nationalkreis Asowo sogar eine eigene Verwaltungseinheit?
Nachdem Katharina die Große 1763 das sogenannte Einladungsmanifest unterzeichnet hatte, siedelten sich Deutsche an der Wolga und am Schwarzen Meer an. Als dort das Land knapp wurde, entstanden Tochterkolonien – ab 1880 auch in Sibirien. Das älteste deutsche Dorf im Gebiet Omsk ist Alexandrowka, gegründet 1893. Die meisten Deutschen kamen aber nach dem Überfall Hitlerdeutschlands 1941. Damals ließ Stalin die meisten Russlanddeutschen nach Sibirien deportieren. Zwar durften sie 1955 ihre Sondersiedlungen verlassen – eine Rückkehr an die Orte an der Wolga, aus denen sie vertrieben worden, war aber nicht erlaubt. Viele blieben in Sibirien. Als die Sowjetunion zerfiel, entschieden sich viele für die Auswanderung nach Deutschland. Diejenigen, die blieben, waren bemüht, ihre kulturelle Identität zu bewahren. 1991 kam es zu einem Referendum, bei dem 83 Prozent für die Gründung eines deutschen Nationalkreises stimmten.

Welche Rolle spielt Deutsch heute noch im Alltag der Dörfer?
Die meisten jungen Russlanddeutschen wachsen in einem russischsprachigen Umfeld auf. Es gibt aber viele, die stolz auf ihre deutschen Wurzeln sind und deshalb Deutsch lernen – wenn es für sie auch eine Fremdsprache ist. Sie engagieren sich bei Veranstaltungen in den deutschen Kulturhäusern der Dörfer und im Kultur- und Geschäftszentrum Deutsch-Russisches Haus in Omsk. In den Familien werden oft russlanddeutsche Rezepte weitergegeben und neben den russischen zusätzlich die deutschen Feiertage gefeiert.
Das Gespräch führte Leonie Rohner.

Das Gespräch führte Leonie Rohner.

Broschüre über Russlanddeutsche

Traditionelle Rezepte für Gerichte wie „Nagiesaher“ oder „Krebli“, eine Foto-Reise in ein deutsches Dorf mitten in der Taiga und viele persönliche Schicksale: Wer mehr über Geschichte und Kultur der Deutschstämmigen in Sibirien erfahren möchte, wird in der Broschüre „Russlanddeutsche“ fündig. Erfahren Sie, wie das Leben der deutschen Minderheit vor den großen Auswanderungswellen der 1990er Jahre aussah, wie es sich veränderte und was es den Menschen heute noch bedeutet, russlanddeutsch zu sein. Die Veröffentlichung mit vielen Fotos, Landkarten und interaktiven Querverweisen zu O-Tönen und Videoclips kann man beim Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) bestellen – oder einfach und bequem direkt im Internet herunterladen.

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