Tattoos für den Neustart

Menschen, die Gewalt erleben, leiden oft ein Leben lang. Auch, weil sie die Narben jeden Tag an die schrecklichen Taten erinnern. Irina Kusmina hilft Frauen, das Trauma zu überwinden, indem sie die Narben in bunte Körperbilder verwandelt.

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Irina Kusmina hilft Gewaltopfern, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen © privat

Die Zahlen sind erschreckend. Nach Angaben der Statistikbehörde Rosstat leidet jede fünfte Frau in Russland unter physischer oder psychischer Gewalt. Insgesamt 16 Millionen sollen es sein. Viele der Opfer tragen die Folgen ein Leben lang auf ihrem Körper. Die Tätowiererin Irina Kusmina aus dem Moskauer Vorort Puschkino unterstützt die Frauen dabei, das Geschehene zu überwinden, und überdeckt die sichtbaren Narben mit Tattoos. 

Irina Kusmina hat Glück gehabt. Die zierliche Frau wuchs in wohlbehüteten Verhältnissen auf und hat von ihrer Familie viel Liebe erfahren. Vor fünf Jahren eröffnete die studierte Landschaftsarchitektin in ihrer Heimatstadt einen Schönheitssalon. Alles deutete auf ein ruhiges Leben hin. Bis ihr Freund 2016 einen Artikel über die brasilianische Tätowiererin Flavia Carvalho las, die Narben von Gewaltverbrechen übersticht. Gleich danach ermunterte er Kusmina, Frauen in Russland zu helfen.

Die 26-Jährige erfuhr vom Projekt „Neugeburt“, das Jewgenija Sachar aus Ufa gegründet hatte. Kurzentschlossen bot Kusmina ihre Hilfe an, die dankbar angenommen wurde. Denn die Liste derjenigen, die ihre grausame Vergangenheit hinter sich lassen und ihre Narben vergessen wollen, war für Sachar nicht mehr allein zu bewältigen.

Ohne Regeln geht es nicht

„Einige engagieren sich in Tierheimen oder gemeinnützigen Organisationen. Ich habe mich entschieden, denen zu helfen, deren Schmerz nicht zu sehen ist. Doch auch wenn er innerlich ist, heißt das nicht, dass diese Menschen keine Unterstützung brauchen“, erklärt die Tätowiererin ihre Motivation.

Auch ein wohltätiges Projekt wie „Neugeburt“ kommt nicht ohne Regeln aus. Die erste lautet, dass nur Frauen geholfen wird. Denn Kusmina und Sachar glauben, dass es Frauen schwerer fällt, physische und psychische Traumata zu überwinden und viele es nicht schaffen. Die zweite Regel schreibt vor, dass die Frauen ihre Geschichte erzählen müssen. Erst danach wird das Motiv ausgesucht. Die Geschichte zu erzählen, bedeutet einen Schlussstrich zu ziehen. Den Laden sollen die Frauen wie neugeboren verlassen.

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Ein Glückssymbol lässt die Spuren der Gewalt verschwinden © privat

Regel Nummer drei besagt, dass die Geschichte wahr sein muss. „Es kommt oft vor, dass jemand einfach ein kostenloses Tattoo auf ihrer Narbe haben will“, erklärt Kusmina. Mittlerweile kann sie wahre Geschichten von erfundenen unterscheiden. „Wer wirklich traumatisiert ist, erzählt ihre Geschichte nicht ruhig. Die Frauen weinen, sind nervös, haben zitternde Hände.“ Zweifelt Kusmina an einer Geschichte, berät sie sich mit ihren Mitstreiterinnen von „Neugeburt“ und entscheidet mit ihnen gemeinsam, ob man der Frau glauben kann oder nicht.

Die meisten Opfer sind sehr jung

Die Frauen, die Kusmina aufsuchen, sind überwiegend zwischen 18 und 23 Jahre alt und kommen aus Moskau und dem Umland. Werbung macht sie für ihre Dienste nicht. Alles läuft über Mundpropaganda. An ihre erste „Kundin“ kann sich Kusmina nicht mehr erinnern. In den vergangenen drei Jahren haben sich mindestens 100 Frauen unter ihre Nadel gelegt.

Die Narben auf den Körpern stammen meist nicht von den Partnern der Frauen, sondern von der Familie, von den Schlägen der Väter und Stiefväter. „Es dauert ein Jahr, bis man eine Narbe tätowieren kann. Zu mir kommen auch Frauen, deren Narben fünf bis sieben Jahre alt sind. Sie haben sie sich also als Jugendliche ‚eingehandelt‘.“ Die Erlebnisse, die zu den Narben geführt haben, sind für die Frauen Vergangenheit. Deswegen brauchen sie auch keine Notfallhilfe, sondern wollen einfach vergessen. Und das mit Hilfe eines Tattoos.

Doch manchmal braucht auch Kusmina Hilfe. „Ich verarbeite das alles sehr langsam. Das Tattoo ist schon fertig und dann begreife ich erst, dass so etwas überhaupt möglich ist. Ich erzähle meinem Freund die Geschichten. Das erleichtert ungemein. So etwas kann man nicht für sich behalten“, gibt sich Kusmina nachdenklich. 

Ljubawa Winokurowa

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