Startrainerin Tschaikowskaja: Pirouetten eines deutsch-russischen Schicksals

Sie hat also doch noch nicht alles gewonnen, was es zu gewinnen gab. Eiskunstlauf-Trainerlegende Jelena Tschaikowskaja (80) ist diesjährige Preisträgerin des Wettbewerbs „Russlands herausragende Deutsche“ in der Kategorie Sport. Für sie schließt sich damit gewissermaßen ein Kreis. Denn dass sie deutscher Abstammung ist, löste gerade in ihrer Kindheit eine ganze Kette von Ereignissen aus.

Jelena Tschaikowskaja heute und auf einem Foto aus den 1950er Jahren im Dynamo-Stadion (Foto: Tino Künzel)

Der Weg zu Jelena Tschaikowskaja ist ein bisschen wie ihr Lebensweg – nicht immer geradlinig. Hier eine Treppe, da eine Tür, der eine oder andere Korridor, von dem man nach links oder rechts abbiegen muss, um zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen, der viel von einem Wohnzimmer hat. Im Mos­kauer Außenbezirk Strogino betreibt Tschaikowskaja auch mit 80 Jahren noch eine eigene Eislaufschule. Dafür hat sie in den 1990er und 2000er Jahren, als ringsum vieles den Bach runterging, eine selbst nach heutigen Maßstäben ziemlich eindrucksvolle Multifunktions-Arena errichten lassen: Zwei Eislaufhallen, zwei Schwimmbecken, eine Sporthalle und manches mehr vereint sie unter einem Dach. Elf Jahre dauerten die Bauarbeiten. Ein Kraftakt, der überhaupt nur zu stemmen war, weil der damalige Bürgermeister Jurij Luschkow das Projekt unterstützte.

Im Herbst 2010 war schließlich Eröffnung, Luschkow schnitt das symbolische Band durch. Wenige Wochen später wurde er nach 18 Jahren abgesetzt, sein Amt übernahm der heutige Bürgermeister Sergej Sobjanin. „Doch ich werde Luschkow ewig dankbar sein“, sagt Tschaikowskaja.

Inbegriff der sowjetischen Eislaufschule

Um es nicht so weit zur Arbeit zu haben, ist sie mit ihrem Mann vom Zentrum hier raus in den Nordwesten von Moskau gezogen. Von den Wohntürmen gleich hinter der Arena, die auf den Namen „Jantar“ (Bernstein) hört, ist es ein Katzensprung zum Büro, das eher einer guten Stube gleicht. Dekoriert ist es mit Wandtellern, Gemälden und Fotos rund um das Thema Eiskunstlauf. Mittendrin: eine Plakette, ausgestellt von der World Figure Skating Hall of Fame in Colorado Springs, USA. Tschaikowskaja wurde im vorigen Jahr in diese ehrenhafte Gesellschaft aufgenommen, weil sie die berühmte sowjetische Eislaufschule maßgeblich mitbegründet hat. 1957 sowjetische Meisterin, beendete sie schon mit 19 Jahren ihre eigene aktive Laufbahn und brachte danach als Trainerin über ein halbes Jahrhundert immer wieder Spitzenläufer hervor. Sechs Olympiasiege und elf Weltmeistertitel holten ihre Schützlinge, die anschließend teilweise selbst im Trainerberuf große Erfolge feierten. Heute ist Tschaikowskaja Vorsitzende des Trainerrats beim russischen Eislauf-Verband.

Aber nun, wo der Journalist von der deutschen Zeitung zu ihr gekommen ist, will sie ihm natürlich auch ihre deutsche Geschichte erzählen. Jelena Tschaikowskaja lässt Kaffee servieren, setzt sich und spult die Zeit zurück. Es war ihre Urgroßmutter Anna, Tochter eines bekannten russischen Porzellanfabrikanten, die dem Familienstammbaum einen deutschen Zweig verpasste, indem sie einen Deutschen namens Hollmann heiratete. Als Jelenas Mutter Tatjana ihre Mutter im Alter von neun Jahren verlor, wurde sie von Anna adoptiert – und damit ebenfalls zu einer Hollmann. Im Sommer 1941, als die Wehrmacht auf Moskau vorrückte, hatte das dramatische Konsequenzen. Alle ethnischen Deutschen wurden auf Beschluss der Sowjetführung ins Hinterland deportiert. Jelena Tschaikowskaja, damals anderthalb Jahre alt, erzählt, was man ihr erzählt hat: „Meine Mutter war mit mir auf der Datscha bei Moskau. Wir durften nicht einmal in die Stadt zurückkehren. Mama hat das, was wir bei uns hatten, in eine Matratze eingewickelt, dann ging es in unseren Sommersachen auf den Transport in Güterwagen nach Kasachstan.“

Goldmünzen fürs Überleben

Dort wären sie in Wintern mit Frösten von bis zu minus 40 Grad wahrscheinlich erfroren. Doch vom vergangenen Reichtum der Kaufmannsfamilie, deren Fabriken und Häuser nach 1917 die neue Staatsmacht konfisziert hatte, waren immerhin noch Zehn-Rubel-Goldmünzen aus der Zeit des letzten Zaren übriggeblieben. Die hatte Jelenas Mutter ebenfalls in Reisegepäck versteckt. Nun waren sie Gold wert und wurden im kasachischen Schymkent gegen Brot und Milch sowie gegen warme Bekleidung getauscht. „Das hat uns gerettet“, sagt Tschaikowskaja.

In den Kriegsjahren wurde das Moskauer Mossowjet-Theater, an dem ihre Eltern als Schauspieler arbeiteten, nach Alma-Ata (Almaty), in die größte Stadt Kasachstans, evakuiert. Jelena und ihrer Mutter erlaubte man, aus Schymkent dazuzustoßen. So war auch die Familie wiedervereint, denn Papa Anatolij hatte als Russe bis dahin in Moskau bleiben können. Irgendwann ging es für alle zurück in die Hauptstadt, „die Deutschen“ sollten aber in Kasachstan bleiben. Für viele Tausend gab es bis zum Ende der Sowjetunion keine Heimkehr aus der Deportation. Ein Großteil wanderte später nach Deutschland aus. „Es hat nicht viel gefehlt und ich wäre bei euch gelandet“, lächelt Jelena Tschaikowskaja im Wissen, dass es dann doch anders gekommen ist.

Die Sportarena „Jantar“ im Moskauer Stadtbezirk Strogino: Hier arbeitet Jelena Tschaikowskaja bis heute mit Eiskunstlauf-Talenten. (Foto: Tino Künzel)

Die Theaterleitung setzte sich sehr für ihre Mutter ein und erwirkte eine Genehmigung, sich wieder in Moskau niederlassen zu dürfen. Die kleine Jelena musste noch zwei Jahre bei ihrer Tante in Tambow ausharren, bevor das auch für sie galt. Und als es schließlich so weit war, wurde bei ihr eine Lungenerkrankung festgestellt. Die Ärzte empfahlen Sport an der frischen Luft. So kam sie zum Eiskunstlauf.

Gut war damit längst nicht alles. Die Sowjetbehörden erinnerten ihre Mutter regelmäßig daran, dass man ein waches Auge auf sie hatte. Wann immer das Theater auf Gastspielreise ins Ausland ging, durfte sie nicht mit. „Ihr hat das alles solche Angst gemacht, dass sie den deutschen Teil unserer Familiengeschichte am liebsten aus dem Gedächtnis gestrichen hätte. Mit mir wollte sie bis an ihr Lebensende nie darüber sprechen“, sagt Tschaikowskaja. Sie selbst hat wegen ihrer deutschen Wurzeln nach der frühen Kindheit keine Nachteile mehr erleiden müssen. „Ich bin im Gegenteil stolz darauf.“

Die deutschen und russischen Einflüsse in ihrer Familie haben sie durchs Leben begleitet. Ihre Mutter sei eine „schöne und stolze Frau“ gewesen, die es mit allem sehr genau nahm. Ihr Vater, der von einem Dorf in der Nähe von Kaluga stammte, war durch nichts so leicht zu erschüttern und hatte immer ein Lied auf den Lippen. Als nach dem Krieg eine Währungsreform anstand und das alte Geld seinen Wert verlor, so schildert es die Tochter, zog er schließlich los, um das Ersparte zu investieren. Zurück kam er mit vier Balalaikas und einer Geige.

Jelena Tschaikowskaja rechnet es ihren deutschen Eigenschaften zu, dass sie nie die Flinte ins Korn geworfen, nie locker gelassen habe, wenn es Schwierigkeiten gab, und dass sie die Dinge immer zu Ende bringen wollte. Als Kämpfernatur überstand sie Anfang der 1990er Jahre eine Krebserkrankung und biss sich durch, als sie im Eisstadion von Dynamo Moskau, über Jahrzehnte ihr zweites Zuhause, in der postsowjetischen Zeit mit ihrer Eislaufschule plötzlich vor verschlossenen Türen stand: Ein Eishockey-Klub hatte die Anlage privatisiert. Als damals alles drunter und drüber ging, suchten viel das Weite und nutzten die mittlerweile offenen Grenzen, um im Westen gutes Geld zu verdienen. Tschaikowskaja blieb und baute sich mit Hartnäckigkeit und Ausdauer ihr eigenes kleines Reich auf, in dem sie bis heute regiert.

„Ich liebe Deutschland“

Zu Deutschland hatte sie immer eine besondere Beziehung. Schon zu DDR-Zeiten war sie oft zu Trainingslagern und Wettkämpfen dort. Von Kollegin Jutta Müller aus Chemnitz, der Trainerin von Katarina Witt, Gaby Seyfert und vielen anderen, spricht sie als einer „guten Freundin“. Und überhaupt: „Ich liebe Deutschland – das Leben, die Ordnung, die Architektur, die Natur.“ Oberstdorf findet sie toll, und wenn sie regelmäßig zu den Salzburger Festspielen reist („Ich habe schon Tickets fürs kommende Jahr“), dann immer über München. „Wenn man von München mit dem Zug nach Salzburg fährt, das ist Wahnsinn. Man möchte dauernd aussteigen, so wunderschön ist es dort.“

Irgendwann möchte Jelena Tschaikowskaja ihre Familiengeschichte aufschreiben, jedenfalls hat sie sich das fest vorgenommen. Aber das muss warten. Noch hat sie weder Zeit noch Muße dafür. Am 28. November wird Tschaikowskaja nun erst einmal ausgzeichnet: Bei der diesjährigen Auflage des Wettbewerbs „Russlands herausragende Deutsche“ gehört zu den acht Preisträgern.

Tino Künzel

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