Wahrscheinlich könnte die Hälfte der russischen Landmasse als Norden bezeichnet werden. Riesige Landstriche liegen jenseits des Polarkreises in der Arktis. Das ist allerdings noch gar nichts gegen Spitzbergen. Der russische Hauptort Barentsburg auf der Inselgruppe im Nordpolarmeer ist 1200 Kilometer von Murmansk entfernt. Noch weiter nördlich kommt nichts mehr, vom Nordpol mal abgesehen.
Ein klassischer Fun Fact über Spitzbergen lautet, dass dort mehr Eisbären als Menschen zu Hause sind. Das ist vermutlich etwas übertrieben, doch die Anwesenheit des Menschen auf dem Archipel ist alles andere als selbstverständlich und nur durch seine Bodenschätze zu erklären. Der wichtigste, die Steinkohle, wurde hier Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt. Das löste eine Art Goldgräberstimmung aus. Zwischen 1912 und 1915 legten an den Ufern von Spitzbergen auch russische Expeditionen an, um die Kohlevorräte zu erforschen und mögliche Ansprüche anzumelden.
Unter norwegischer Verwaltung
Seit dem Spitzbergenvertrag von 1920 werden die Inseln von Norwegen verwaltet. Aber auch andere Unterzeichnerstaaten können dort einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen. Davon machte allerdings nur die Sowjetunion Gebrauch. Das 1931 gegründete Bergbauunternehmen Arktikugol kaufte früheren holländischen und schwedischen Besitzern ihre Gruben ab und baute die Kohleförderung in großem Stil aus, einschließlich der betreffenden Arbeiterwohnsiedlungen. Barentsburg, Pyramiden oder Grumant hießen die typisch sowjetischen Wohnorte mit ihren Lenin-Denkmälern, Kulturhäusern und Einheitsbauten, wie man sie auch auf dem Festland bis heute findet.
In den 1970er und 1980er Jahren erlebte der russische Teil von Spitzbergen seine Sturm- und Drangzeit, von der er nach dem Zerfall der Sowjetunion direkt in eine tiefe Depression rutschte. Die Förderung wurde gedrosselt, die Siedlungen verloren einen Großteil ihrer Bevölkerung, mit Pyramiden wurde in den 1990er Jahren ein einstiges Aushängeschild ganz aufgegeben. Als 1996 eine aus Moskau kommende russische Chartermaschine beim Landeanflug mit einem Berg kollidierte und alle 141 Menschen an Bord – die meisten davon Grubenarbeiter – den Tod fanden, war das wie ein Menetekel.
Tourismus soll die Zukunft sein
Heute wird nur noch in Barentsburg Kohle abgebaut. Und auch dort werden die Mengen planmäßig zurückgefahren. Sogar Arktikugol macht schon seit Längerem auf Tourismus. Der hatte sogar schon wieder für eine gewisse Aufbruchstimmung gesorgt. Vom norwegischen Hauptort Longyearbyen waren Schaulustige mit dem Schiff herübergekommen und hatten ein paar Stunden mit Besichtigungen verbracht. Sogar Pyramiden war für die Touristen hergerichtet worden. Dort entstanden ein Hotel, ein Restaurant, ein Café, ein Souvenirladen und das „nördlichste Kino der Welt“. Die russische Reiseseite Special Travel Club spricht von einer „postapokalyptischen“ Attraktion, die einen Vergleich mit Pripjat bei Tschernobyl nicht zu scheuen brauche, dabei aber kein Gesundheitsrisiko berge.
Doch seit Februar 2022 ist das Verhältnis zu den norwegischen Nachbarn nicht mehr das alte. Man trifft sich zwar nach wie vor einmal im Monat zum Schachspielen oder misst sich in anderen Sportarten und geht bei der Gelegenheit zusammen essen, schließlich kennt man sich schon lange. Doch an größere gemeinsame Projekte ist nicht zu denken. Mehr noch, die norwegische Regierung hat die Vergabe von touristischen Schengenvisa an Russen bereits im Frühjahr 2022 praktisch gestoppt. Im Mai dieses Jahres folgte nun die Schließung der Grenze für russische Touristen.
Für die ging damit das letzte Tor in den Schengenraum zu. Noch härter traf es allerdings die Russen auf Spitzbergen, die doch so sehr auf ihre Landsleute gehofft hatten. Doch weil die Inseln zwar visumfrei bereist werden können, aber nur über Inlandsflüge von anderen norwegischen Städten zu erreichen sind, fiel diese Perspektive flach.
Schiffslinie ab 2025 geplant
Im September machte nun die Meldung die Runde, schon im kommenden Jahr würde ein Touristenschiff von Murmansk aus nach Barentsburg verkehren. Mit der Idee war Ildar Newerow, der Chef von Arktikugol, an die Öffentlichkeit gegangen. Der Güterverkehr zwischen den beiden Städten funktioniere bereits, in diesem Jahr hätten 16 Fahrten stattgefunden, sagte er in einem Interview. Ab 2025 könnten dann alle Interessierten mit einem Passagierschiff nach Spitzbergen gelangen. Das müsse komfortabel sein, denn die Fahrtzeit in eine Richtung betrage 2,5 Tage. Ein geeignetes Schiff für diese Zwecke werde derzeit gesucht. Barentsburg soll damit einmal im Monat angelaufen werden.
Wenn die Verbindung irgendwann steht, will Newerow auch Pauschalreisen anbieten, für jeden Geldbeutel, wie er sagt. Sowohl anspruchsvolle Kunden als auch preisbewusste wie Studenten und junge Wissenschaftler kämen auf ihre Kosten. Und letztlich ist es nach Barentsburg ja auch nicht weiter als zu anderen abgelegenen Kohlerevieren auf dem Festland wie etwa nach Workuta.
Tino Künzel