Villa Kunterbunt im alten Wasserturm

Das Wohnprojekt Sila Druschby vereint seit vergangenem Sommer Menschen, die mehr sein wollen als eine bloße WG. Ungewöhnlich ist dabei nicht nur die Art ihres Domizils. Ein Besuch.

Sila Druschby
Gruppenbild mit Tieren: Im Sila Druschby ist für jeden Platz. (Foto: Anna Finkenzeller)

Exponiert und gleichzeitig doch versteckt liegt das Backsteingebäude zwischen dem Jaroslawler und dem Leningrader Bahnhof. Unzählige Menschen kommen jeden Tag an ihm vorbei, in Vorortzügen auf dem Weg zur Arbeit oder bei der Abfahrt in den Urlaub. Wohl kaum einer von ihnen weiß, dass in dem ehemaligen Wasserturm seit vergangenem Sommer das Wohnprojekt Sila Druschby (Kraft der Freundschaft) zuhause ist.
Ein Eingangsschild gibt es nicht. Dass die niedrige Stahltür der Eingang ist, erschließt sich nur, weil es keinen weiteren gibt. Klingeln geht auch nicht. Aber das ist egal, denn die Tür ist angelehnt. Im kahlen Treppenhaus hat jemand die Nummern der Stockwerke per Hand an die Wand gemalt. Hinter einer Holztür rattert ein wenig vertrauenerweckender alter Aufzug. Sila Druschby befindet sich ganz oben im Turm, in der sechsten und siebten Etage.

Tee, Ketchup und gerettete Quarkklöße

Im Flur empfängt Jelisaweta den Besuch. Mit ihren helllila Haaren, der runden Brille und der roten Schleife um den Hals könnte sie einem Zeichentrickfilm entsprungen sein. Das Sila Druschby ist auf Gäste vorbereitet. An der Garderobe liegt ein ganzer Haufen bunter Hausschlappen. In der schwarz gestrichenen Küche bietet Jelisaweta Tee an und Quarkklöße, syrniki, die aus dem Müllcontainer eines Supermarktes stammen. Regelmäßig rettet die Gemeinschaft Lebensmittel aus dem Müll, die noch genießbar sind, aber von Supermärkten weggeworfen werden.
Der Kühlschrank sieht aus wie das Frischeregal im Supermarkt: Fächerweise stapeln sich die gleichen abgepackten Produkte, darunter auch die syrniki. Die Ausbeute wird unter allen Mitbewohnern geteilt. Wer sich eigenes Essen kauft und anderen nichts abgeben will, schreibt seinen Namen darauf. Und zwar am besten groß und mehrmals über die ganze Verpackung, wie Katja es mit ihrer Tüte Ketchup demonstriert. Sie lebt seit einem Monat hier und hat mit 20 bereits drei Jahre eines BWL-Studiums hinter sich, jetzt möchte sie zu Informatik wechseln.

Vorträge statt Vorglühen

Vom Wohnprojekt hat sie über Mischa erfahren, einen der Gründer von Sila Druschby. „Er ist ein Visionär und der Ideengeber der Gemeinschaft“, erzählt Katja. „Viele Leute sind bereit, ihm zu folgen.“ Dass die Kommune für ihn nicht nur ein Lebensraum, sondern auch Lebensaufgabe ist, wird im Gespräch mit ihm deutlich. „Ich interessiere mich für Wissenschaft, lese Bücher, habe aber keine spezielle Ausbildung“, sagt er auf die Frage, was er denn so mache. „Wenn ich arbeite, arbeite ich meistens als Kurier. Momentan widme ich viel Zeit der Entwicklung von Sila Druschby.“ Mischa muss nicht lange nach Formulierungen suchen, wenn er mit einer Portion Pathos die Philosophie der Gemeinschaft erklärt.

Sila Druschby
Mischa ist der Kopf hinter der Kommune. (Foto: Anna Finkenzeller)

In Großstädten gebe es eine Vertrauenskrise, sagt er, die Menschen entfremdeten sich voneinander. Er sieht die Kommune als einen Raum, ein kulturelles Zentrum, in dem verschiedene Menschen zusammenkommen, Wissen austauschen und sich inspirieren. „Die wichtigste Idee des Projekts ist es, die Leute einander wieder näherzubringen.“ Verschieden sind auch die Bewohner der Kommune, wie Mischa erklärt. „Die Mehrheit der Bewohner sind Studenten. Manche arbeiten in der Wissenschaft, es gibt Leute aus der Arbeiterklasse, die in einer Fabrik arbeiten, Kuriere oder Künstler.“ Die jüngste Bewohnerin ist 18 Jahre alt, der älteste 35.


Was aber unterscheidet die Kommune von einer normalen WG? Zum Konzept gehört, so viele Menschen wie möglich in die Gemeinschaft miteinzubeziehen. Regelmäßig finden in einem extra dafür eingerichteten Raum im Wasserturm Vorlesungen oder Filmvorführungen statt. Dass Gäste ständig ein und aus gehen, gehört auch dazu. Statt Trinkspiele im Partykeller gibt es Tee – Alkohol und Drogen sind strikt verboten, das ist eine der wenigen Regeln. Anders als in einer traditionellen Kommune teilen sich die Bewohner nicht ihren ganzen Besitz. Für alle gleich ist aber die Miete. Die beträgt 10 000 Rubel, also etwa 120 Euro, was für Moskauer Verhältnisse günstig ist

Wo sich Vogel und Hase gute Nacht sagen

Derzeit leben 13 bis 15 Menschen im Turm, die Zahl ändert sich immer wieder. Jelisaweta und Katja führen in den siebten Stock, wo die meisten von ihnen schlafen. Die Atmosphäre wirkt wie eine Mischung aus Schullandheim und Puppenhaus. Von den Wänden bis zur Decke ist alles bunt bemalt, auch das Holz der Stockbetten. Türen gibt es keine, die Zimmer sind nur durch Vorhänge getrennt, wie Jelisaweta erklärt. Es wohnen auch Tiere hier oben: das weiße Kaninchen Jaropolk und Jelisawetas zahmer Vogel Sofia, der auf der Hand sitzen bleibt und sich streicheln lässt. Im Vorraum zu den Zimmern steht ein trübes Aquarium, in dem ein paar einsame Wasserschnecken an der Scheibe kleben. „Die Fische sind leider gestorben“, bedauert Katja. „Dafür sind die Schnecken jetzt ganz unter sich.“ Momentan sind im Turm zwei Betten frei in einem Zimmer, das eher eine Kammer ist – große Bogenfenster mit Blick auf die Gleise gibt es hier nicht.

Einziehen darf erst mal jeder

Sila Druschby
Versteckt liegt der alte Wasserturm zwischen zwei Moskauer Bahnhöfen (Foto: Anna Finkenzeller)

Wer in die Gemeinschaft einziehen darf, wird in der Gruppe entschieden. Es gebe keine genauen Kriterien für neue Mitbewohner, sagt Mischa. „Um es in Worten zu formulieren: Sie müssen freundlich und abenteuerlustig sein.“ Interessenten werden normalerweise zu einem Gespräch eingeladen und können die Gemeinschaft kennenlernen. „Es hängt in erster Linie davon ab, wie sehr jemand mit uns zusammenleben möchte. Auch wenn eine Person nicht gut zu uns passt, geben wir ihr trotzdem die Möglichkeit, erst einmal für eine Zeit bei uns zu wohnen. Manchmal kann man das auf den ersten Blick nicht entscheiden“, ergänzt Katja.


Seit September hat die Kommune Platz für neue Mitbewohner. In einem Wohnviertel ein paar Kilometer vom Wasserturm entfernt hat Sila Druschby eine Wohnung gemietet. Die liegt weitaus weniger stimmungsvoll im Hochhaus eines Geschäftskomplexes und ist derzeit eher noch eine Baustelle. Es gehe bei dem Projekt nicht um den Wasserturm an sich, sondern um die Idee, betont Jelisaweta. „Wir könnten etwas wie Sila Druschby überall aufbauen“, ist sie überzeugt. Sie kann sich vorstellen, hier noch eine Weile zu leben, „mindestens für zwei Jahre“. „Ich fühle mich rundum wohl“, sagt sie. „Hier zu leben hat ein altes Ich zurückgeholt, ein gutherziges und unbeschwertes, weil ich hier so freundliche Menschen kennengelernt habe. Ich bin jetzt nicht mehr so unruhig und habe sogar keine Albträume mehr.“ Das leise Rattern der vorbeifahrenden Züge, das bis in den siebten Stock des Turms dringt, hat sicher auch dabei geholfen.

Anna Finkenzeller

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