Am 2. Oktober 1989 erschien im „Neuen Deutschland“, dem „Zentralorgan der SED“, und in anderen DDR-Zeitungen ein Kommentar, den viele als Schlag ins Gesicht empfanden. Unterzeichnet war er mit dem Kürzel des Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes, der staatlichen Nachrichtenagentur. Doch es wird davon ausgegangen, dass der Text weiter oben verfasst wurde, zumindest in Teilen. Auch Erich Honecker soll daran mitgeschrieben haben.
„Man sollte ihnen keine Träne nachweinen“
Inhaltlich geht es um die DDR-Flüchtlinge, die in den Wochen und Monaten davor unter anderem in westdeutschen Botschaften Zuflucht gesucht hatten. Ein Alarmsignal? Ein Drama, eine Tragödie? Keinesfalls, stattdessen werden die Geflüchteten geschmäht, sie hätten „sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt“, so bereits die Überschrift. Weiter heißt es „Sie schaden sich selbst und verraten ihre Heimat“ und „Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen“. Vor allem letzterer Satz hat, weil er so bodenlos war und so krass die Stimmung im Land verkannte, Eingang gefunden unter die denkwürdigsten Zitate der Wendezeit.
Der Kommentar hat heute sogar einen Eintrag bei Wikipedia. Gut zwei Wochen, nachdem er geschrieben worden war, wurde Honecker seinerzeit von allen Ämtern entbunden. Noch einmal drei Wochen später fiel die Mauer.
Auch Russland hat in jüngster Zeit eine Flüchtlingswelle erlebt. Wie viele es genau waren, die um ihre Sicherheit fürchteten, die der Einberufung zur Armee entgehen wollten, mit ihrer Meinung angeeckt waren oder sich einfach nicht mehr wohlfühlten in ihrem Land, weiß keiner so genau. Aber es waren auch unzählige Prominente darunter, Künstler, Stars, Lieblinge der Nation. Das bewahrt sie seitdem nicht davor, dass man ihnen in den Medien und sozialen Netzwerken ein ums andere Mal demonstrativ „keine Träne nachweint“, so als schreibe ein ganzes Land vom Kommentar im ND ab. Ihre Heimat sollen sie verraten haben. Man macht sich fast schon verdächtig, wenn man ihnen nichts von diesem Kaliber nachsagt.
Sängerin Pugatschowa
Keiner blieb davon verschont, nicht einmal Sängerin Alla Pugatschowa, die „Primadonna“, scheinbar unangreifbar in früheren Zeiten. Heute lebt sie in Israel. Das Online-Magazin Life.ru schrieb über Pugatschowa: „Die Geschichte lehrt, dass niemand Verräter mag. Erst werden sie benutzt, dann will man sie loswerden.“ Mancher hat auch schon gefordert, Pugatschowa die russische Staatsbürgerschaft zu entziehen oder ihr staatliche Auszeichnungen abzuerkennen.
Schauspieler Kusnezow
Der Schauspieler Alexander Kusnezow emigrierte im vorigen Herbst nach England, nachdem er einen Einberufungsbefehl erhalten hatte. Die russischen Zuschauer kennen ihn vor allem als Hauptdarsteller des Historiendramas „Das Herz von Parma“, einem der erfolgreichsten russischen Filme des Jahres 2022. Doch der 30-Jährige ist auch im Ausland gefragt, wirkte unter anderem in der Hollywood-Produktion „Phantastische Tierwesen: Dumbledores Geheimnisse“ mit.
Nachdem er im März dem Youtube-Interviewer Juri Dud (vom russischen Justizministerium als „ausländischer Agent“ gelistet) Rede und Antwort gestanden hatte, widmete ihm Russlands auflagenstärkste Wochenzeitung „Argumenty i Fakty“ einen langen Artikel, der sich damit beschäftigt, wie er zum „Verräter der Heimat geworden“ sei. Selbst der mittelalterliche Fürst, den Kusnezow in „Das Herz von Parma“ spielt, sei mit seinem Verrat nicht so weit gegangen wie der Schauspieler, der ihn verkörpert, heißt es dort. Und weiter: „Da kommt also mitten in der militärischen Sonderoperation ein Film eines ukrainischen Produzenten mit einem Schauspieler-Verräter in der Hauptrolle in den russischen Verleih. Klar, wenn nach offiziellen Angaben mehr als 700 Millionen Rubel investiert wurden, dann muss man sich natürlich Mühe geben, sie wieder einzuspielen. Diese ganze Sache zeugt in erster Linie von der Atmosphäre, die über Jahre unter Russlands Kreativen geherrscht hat.“
Die Frage, schließt der Artikel, sei nur, ob Kusnezow, die „russophoben“ ukrainischen Produzenten und „prinzipienlose Regisseure“ nur Nachwehen einer bereits überstandenen Krankheit seien oder ob die Wunde weiter eitere.
Comedian Poperetschny
Danila Poperetschny ist ein russischer Comedian, der Anfang des Jahres in die USA auswanderte. Sein Youtube-Kanal hat über drei Millionen Abonnenten. Fillip Fissen, ein Designer und Kolumnist aus St. Petersburg, erklärt das in einem Beitrag, den das Online-Magazin „Absatz“ veröffentlichte, wie folgt: „So wie Jazz die Musik der Dicken war, so ist Stand-up das Genre der Talentlosen. Die weder singen noch tanzen und noch nicht mal richtig reden können. … Es versteht sich von selbst, dass so eine niedrige Hürde alle möglichen Nichtskönner und Trittbrettfahrer anlocken musste. So hat unter anderem auch die Karriere des heutigen Präsidenten der Ukraine angefangen. Vom Halbgebildeten ist er nur deshalb zum Zuschauerliebling geworden, weil die Fachwelt sich nicht für ein solch läppisches Genre der Unterhaltungsindustrie wie Stand-up-Comedy interessiert.“ Poperetschny sei „russophob“ und ein „Menschenhasser“, der früher oder später in die „Abfallgruben des billigen Humors“ abrutschen musste.
Auf Life.ru hat man derweil eigene biografische Erkenntnisse dazu gewonnen, wie der Videoblogger zu dem geworden ist, was er heute ist. „Seine russophobe Position verdankt er sechs Jahren in einer ukrainischen Schule, die er besuchte, nachdem er mit seiner Mutter nach Kiew umgezogen war. Das liegt ja wohl auf der Hand, wie es so schön heißt. Der Einfluss ukrainischer Propaganda auf russische Kinder am praktischen Beispiel“, findet Life.ru.
Tino Künzel