Russlands Häuslebauer und ihre Vorlieben

2010 flüchteten die Moskauer auf ihre Datschen, als die Stadt wegen Torfbränden in dichten Rauch gehüllt war. 2020 gab es wieder eine Massenflucht aufs Land, diesmal wegen der Pandemie. Aber was, wenn man überhaupt kein Häuschen im Grünen hat? Das ist ein guter Grund, eins zu bauen.

Datschensiedlung in der Nähe der südrussischen Großstadt Krasnodar (Foto: Tino Künzel)

Die Pandemie hat dem Datschenbau einen fantastischen Aufschwung beschert. YouTube-Videos, in denen ganz normale Leute erzählen, wie sie während des Lockdowns auch ohne große Vorkenntnisse ein Häuschen hochgezogen haben, wurden Millionen Mal angeklickt. Wenn man noch die Videos der Fachleute hinzunimmt, dann ist der Bauboom offensichtlich.

Teure Tradition

Von alters her war die dominierende architektonische Form in Russland die traditionelle Bauernhütte. Wände aus Holzbalken besitzen ihren eigenen Charme, sie sind wahrhaft schön. Doch die Reihen der Anhänger unvergänglicher Klassik haben sich in letzter Zeit stark gelichtet.

MDZ-Chefredakteur und Datscha-Besitzer Igor Beresin plaudert in seiner Kolumne aus dem Datschnik-Nähkästchen.

Erstens ist es alles andere als einfach, anständige Handwerker zu finden, die in der Lage sind, so ein Holzhaus in hoher Qualität zusammenzuzimmern. Ich erinnere mich noch, wie ganz am Anfang unseres familiären Datschendaseins ein Tischler zu uns ins Dorf kam. Er hatte nur einen Arm, doch damit wusste er die Axt so zu gebrauchen, dass echte Meisterwerke entstanden. Heute hört man im Bekanntenkreis, dass solche Leute rar geworden sind.

Zweitens spricht auch die Energieeffizienz nicht unbedingt für Holzhäuser, wobei es nicht unmöglich ist, Qualität, Wärme und Schönheit in Einklang zu bringen. Nur sprengen die Kosten eines solchen Projekts oft alle Grenzen. Und dann eignet sich ein Holzhaus auch nicht für Selfmade-Häuslebauer. Das engt Kreis der Interessenten noch weiter ein.

Von trauriger Gestalt

Wenn wir schon bei der Geschichte sind, dann muss auch die Datschenarchitektur aus der Zeit des totalen Mangels in der späten Sowjetunion erwähnt werden. Die leeren Regale in den Baugeschäften haben ihre Spuren hinterlassen. Da sind die Latten von unterschiedlichen Maßen, die Ziegel aus zweiter Hand und schlecht verlegt, die Fenster und Türen so billig, dass sie nicht zum Stil des Hauses passen, wenn man in diesem Fall denn von Stil sprechen will. Der Volksmund sagt, dass man je nach Versorgungslage auch aus Kacke und Stöcken baut. Wer Datschensiedlungen kennt, die vor dem Warenüberfluss entstanden sind, der weiß, was ich meine. Auch solche Häuser von der traurigen Gestalt sind Teil der Datschenlandschaft in Russland. Selbst heute, wo es alles gibt, basteln einige ihre Behausung aus dem zusammen, was ihnen gerade in die Hände kommt. Andererseits, was bleibt ihnen auch anderes übrig, wenn das Geld für hochwertiges Material einfach nicht reicht?

Kleines Glück

Wer sich keinen ausgewachsenen Landsitz leisten kann, aber trotzdem eine Datscha möchte, wobei sie auch noch schön, modern und originell, komfortabel und solide in der Ausführung sein soll, der ist bei Tiny House richtig. Das Konzept kleiner, ja winziger Häuschen erfreut sich nicht nur in den USA großer Beliebtheit, sondern ist auch in unseren Breiten angekommen. Wer keine Großfamilie hat, sondern einfach nur in der Natur sein möchte und dabei auf Billardtisch und Pool verzichten kann, der wird mit einem guten Tiny House glücklich. Die Reaktion der Nachbarn auf solche Projekte ist üblicherweise ein und dieselbe: Erst wird offen gelacht und dann still beneidet. 

Deutsche Akzente

Noch ein Hit der letzten Jahre – Barn House. Häuser im Stile amerikanischer Scheunen gehen weg wie warme Semmeln. Lakonische Formen, große vertikale Fenster, die Fassadenverkleidung aus Lärchenholz – wer kann da schon widerstehen? Doch der ausländische Einfluss auf den russischen Datschenbau ist längst nicht nur amerikanischen Ursprungs. Wer sich der Skelettbauweise verschrieben hat, der steigt mit der Frage ein, ob er die kanadische oder finnische Technologie vorzieht. Wem der Sinn eher nach deutscher Aura steht, der kann zwischen allen möglichen Spielarten von Fachwerk wählen. Das mag nun hierzulande eher ein Außenseiter sein, aber in den Datschensiedlungen ist Made in Germany trotzdem überall, von Kunststofffenstern und speziell den zugehörigen Beschlägen über Gipskartonplatten bis zu Heizungskesseln. Egal, was für ein Traumhaus es am Ende werden soll, irgendetwas ist daran garantiert deutsch.

Ohne Schnickschnack

Häuser aus Balken und Bohlen, Rahmen- oder Gasbetonwände und natürlich der gute alte Ziegel – all gibt es in den meisten Datschensiedlungen und nicht zu knapp. Auch die architektonischen Lösungen sind geradezu endlos: Häuser im Wright-Stil mit Walmdach, stilvolle Häuserwürfel mit Flachdach, Variationen zum Thema der russischen Holzbaukunst und vieles mehr. Gibt es da eigentlich überhaupt Gemeinsamkeiten? Ja! Man muss sich nur ins Hausinnere begeben. Denn dort erwartet einen mit großer Wahrscheinlich ein und dasselbe Interieur. Danke, Ikea, dass es dich gibt.

Igor Beresin

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