Frau Poljanskaja, warum ist es der 25. Mai, an den wir heute in Zusammenhang mit dem Widerstand im russischen Gulag erinnern?
Die Ereignisse am 25. Mai 1953 im GorLag gaben den Anstoß für den Aufstand. Seine Ursachen liegen jedoch viel tiefer. Stalins Tod weckte die Lagerwelt. Der Monolith aus „Lagerstaub“ bekam einen ernsten Riss. Viele Gefangene erlebten eine innere Befreiung, aus der heraus natürlich an eine raschere Entlassung gedacht werden konnte. Die Realität jedoch bestätigte diese Erwartungen nicht. Ende März wurden fast eine Million Gefangene aus den Lagern Russlands amnestiert, aber nicht politische Gefangene. Damit erhöhte sich der Anteil der politischen Gefangenen an den übrigen Häftlingen und erreichte zum ersten Mal in der Geschichte des Gulags 50 Prozent. In Speziallagern wie im GorLag waren die politischen Gefangenen so in der Mehrheit.
Die Lagerleitung, die plötzlich die Unterstützung verlor, reagierte mit Verunsicherung, die sich in häufigen Gesetzesverstößen manifestierte. Gleichzeitig erlaubte das wiedererweckte Gefühl für den eigenen Wert den Gefangenen nicht, Willkür der Lagerverwaltung zu tolerieren. Die innere Einheit untereinander ermöglichte es ihnen, massiven Widerstand gegen das Regime auszuüben. Am 25. Mai musste dann eine Kolonne von Gefangenen aus der 4. Lager-abteilung vom zentralen Straf-Isolationslager GorLag in die 5. Isolationsabteilung eskortiert werden und dabei wurde ein Gefangener getötet. Die Nachricht breitete sich sofort in den Lagerzonen aus.
Zu den Auslösern des Aufstands gehörte auch ein Ereignis in Zusammenhang mit dem Frauenlager?
Am 26. Mai eröffneten Wachen mit Maschinengewehren das Feuer auf Gefangene des 5. Lagerkomplexes, wo, durch einen Drahtzaun von der Männerzone getrennt, eine Frauengruppe zur Arbeit eskortiert wurde. Die Kugeln durchstießen die Wände und Fenster der Baracke und töteten und verwundeten bis zu einem Dutzend Gefangene, die sich ausruhten und zu Abend aßen. Daraufhin wurde von den Gefangenen eine Untersuchungskommission aus Moskau verlangt. Der 6. Lagerkomplex der Frauen erklärte solidarisch mit den Männern aus dem 5. Lagerkomplex einen Streik. Die Gefangenen hängten zum Zeichen des Streiks schwarze Flaggen aus, es wurden Streikkomitees gegründet und es begann ein Massenhungerstreik der Gefangenen.
Wie genau hat sich der Aufstand von dort ausgebreitet?
Der Aufstand in GorLag war nicht bewaffnet und friedlich. Die Gefangenen erklärten den Streik und warteten auf die Untersuchungskommission aus Moskau, für die sie ihre Forderungen formulierten. Zu diesen gehörte unter anderem die Verkürzung des Arbeitstags auf acht Stunden, die Entfernung von Nummern auf der Kleidung, die Abschaffung der Beschränkungen für Korrespondenz auf zwei Briefe pro Jahr und von unmenschlichen Bestrafungen sowie eine allgemeine Verbesserung der Lebensbedingungen und der medizinischen Versorgung.
Ein besonderes Merkmal der Aufstände von 1953 bis 1954 und des Aufstands im GorLag war es, dass die Gefangenen zum ersten Mal in der Geschichte des Gulag nicht nur eine Verbesserung der Haftbedingungen forderten, sondern die Freiheit. In der Frauenabteilung des GorLag begann der Streik unter den Mottos „Freiheit für Völker und Menschen!“ und „Wir fordern Achtung der Menschenrechte!“ Radikale Parolen wie „Nieder mit dem Gefängnis und Lager!“ und „Wir fordern, zu unseren Familien zurückzukehren!“ wurden aufgehängt.
Die Aufständischen wählten eine Vertretung, welche die Konfrontation friedlich gestalten konnte. Mehr als zwei Monate lang gelang es ihnen, ein alltägliches Leben in den Lagerzonen aufrechtzuerhalten und Anarchie und Gewalt einiger Häftlinge gegenüber anderen nicht zuzulassen.
Statt einer Kommission aus Moskau kam eine Abteilungskommission des Ministeriums für Innere Angelegenheiten zusammen mit Vertretern des Zentralkommitees der KPdSU. Nach den Verhandlungen wurden die einfachsten Forderungen der Gefangenen teilweise erfüllt.
Denken Sie, dass Menschen etwas gemeinsam haben, die unter extremen Bedingungen die Kraft und den Mut haben Widerstand zu leisten? Gibt es bestimmte Eigenschaften oder Voraussetzungen dazu?
Der Forscher A.B. Makarowa nannte den Aufstand in GorLag die „Rebellion des Geistes“. Die Rebellen in GorLag hatten keine Waffen, ihre Stärke lag in ihrer Einheit, Furchtlosigkeit und Entschlossenheit. „Tod oder Freiheit!“ erklang es in Norilsk in vielen Sprachen, weil unter den Häftlingen des GorLags Vertreter aus Dutzenden von Nationalitäten waren. „Abo Smert, abo zhitya!“ („Entweder Tod oder Leben!“) – riefen die westukrainischen Frauen, Hand in Hand, während sie von den Wasserwerfern von den Füßen gerissen wurden, noch unter dem Druck des Wasserstrahls.
Wie endete der Aufstand?
Der Aufstand dauerte etwa zwei Monate, danach beschloss die Verwaltung, ihn gewaltsam zu stoppen. Viele Streikende wurden erschossen. Alle anderen Aufständischen wurden getrennt und in verschiedene Lager geschickt.
Was haben sie erreicht?
Der Aufstand in GorLag wie auch in anderen Lagern bezeugte eine Krise des Lagersystems. Der Widerstand erreichte zunächst eine Milderung des Regimes, die Entfernung von Nummern an der Kleidung, eine Erweiterung der erlaubten Anzahl von Briefen an Verwandte pro Jahr. Ein paar Monate nach dem Aufstand wurde GorLag geschlossen. 1956 wurde der Gulag liquidiert.
Alexander Solchenizin schreibt, dass die Aufarbeitung der Geschichte des Gulags in Russland nicht ausreichend stattgefunden hat. Institutionen wie das Gulag Museum und Memorial Russland haben es heute nicht leicht. Warum sollen wir des Widerstands im Gulag gedenken und gibt es etwas, das wir daraus lernen können?
Erinnert werden muss daran, dass jedes totalitäre System und jede Strafpolitik gegenüber dem eigenen Volk, trotz Repression und Unterdrückung der Freiheit, früher oder später in eine Revolte, eine Revolution mündet.
Das Gespräch führte Fabiane Kemmann