Großstadt und Depressionen: Eine Journalistin räumt mit Mythen auf

Depressionen, Neurosen und Phobien: Wie überlebt man als urbaner Hipster den Großstadtdschungel? Darija Warlamowa gibt in ihrem Survivalguide „S uma sojti!" (Zum verrückt werden) eine Anleitung.

 

Die Journalistin Darja Warlamowa spricht öffentlich über Depressionen /Timur Anikeew

Die Journalistin Darja Warlamowa spricht öffentlich über Depressionen / Foto: Timur Anikeew.

Frau Warlamowa, macht die Stadt uns psychisch krank?

Das ist etwas übertrieben, weil psychische Störungen in der Regel aus einer Kombination von genetischen Faktoren und belastenden Lebenserfahrungen auftreten. Natürlich ist eine Megametropole für Menschen mit Phobien ein Stressfaktor, der psychische Probleme verstärken kann.

Leben auf dem Land dann die gesünderen Menschen?

Nicht zwangsläufig. Zwar gibt es dort weniger Lärm und Stress, dennoch können Menschen, die hart arbeiten, in eine schwere Depression fallen. Die Dorfidylle trügt.

Und dann ist da noch der Wodka auf dem Land…

Alkohol ist eine Möglichkeit der Selbsttherapie. In Russland gibt es eine kulturelle Tradition, Stress mit Alkohol zu lösen. Es ist ein bekannter Mechanismus.

Dem russischen Volk wird eine Neigung zum Schwermut nachgesagt. Wie steht es um die russische Seele?

Das ist natürlich ein populärer Mythos, der jedem gefällt. Was man aber sagen kann, ist, dass der russische Mensch ein gespaltenes Verhältnis zum Komfort hat. Wir sind noch nicht mit der Selbstfürsorge vertraut. Unser Wohlergehen stecken wir zurück. „Reiß dich zusammen!“, heißt eine populäre Aufforderung. Das sind Spuren der sowjetischen Geschichte in uns.

Was meinen Sie damit?

Wir haben ein dunkles Kapitel der sowjetischen Psychiatrie. Sie war ein Verbannungsort für Dissidenten. Joseph Brodsky war der berühmteste Patient. Die Angst überwiegt auch heute noch. Viele stellen sich vor, dass ein Arzt nur auf irgendeinen Knopf drücken muss, damit Sanitäter herbeieilen, einen in die Zwangsjacke stecken und in die Psychiatrie einweisen. Vertrauen genießen bei uns dagegen Psychoanalytiker in der Tradition Freuds.

Apropos Freud. Viele New Yorker liegen regelmäßig auf der Couch. Wie steht es mit Moskau?

Moskau ist nicht New York. Dort ist es selbstverständlich, zum Psychotherapeuten zu gehen. Hier kann es passieren, dass ein Mensch einem im Zug seine komplette Lebens-geschichte erzählen wird, wenn er aber an einer psychischen Störung leidet, wird er bis zum Schluss schweigen. „Was denn, bin ich etwa verrückt?“, würde dieser Mensch sagen. Professionelle Hilfe wird in Russland als ein Zeichen der Schwäche angesehen. Eine psychische Störung wird nicht als Krankheit betrachtet.

Und was sagt die Forschung?

Die Neurobiologie zeigt, dass es sich um einen physischen Prozess im Gehirn handelt, der psychische Störungen hervorruft. Das hat nichts mit Melancholie oder Willensschwäche zu tun.

Ist Ihr Buch, das Sie mit Anton Sainiew geschrieben haben, ein Versuch, Licht ins Dunkle zu bringen? 

Ja, das ist unsere Mission. 2012 erkrankte ich an klinischer Depression. Ein paar Jahre später Anton. Als wir in ärztlicher Behandlung waren, haben wir angefangen, im russischen Internet zu recherchieren. Dort gibt es viele Schreckensgespenster, aber keine normale Information.

Sie haben sozusagen eine Marktlücke gefunden.

Genau. Unser Buch ist ein Ultimate Guide für den Großstädter, der sich zum ersten Mal mit dem Thema auseinandersetzen will. Die Message ist: Psychische Erkrankungen sind normal. Wenn man sich ein Bein bricht, dann zögert man doch nicht, zum Arzt zu gehen. Mit der Psyche muss ebenso pragmatisch umgegangen werden.

Was ist denn heute im russischen Verständnis normal und unnormal?

In Russland verbinden die Menschen das Unnormale mit Nonkonformismus. Normalität wird dagegen als Anpassung definiert. Deshalb haben wir in unserem Buch Krankheiten porträtiert, die nach außen hin gewöhnlich aussehen. Du musst dich nicht exzentrisch wie Pawlenskij oder van Gogh aufführen. Du kannst ein einfacher Office-Mitarbeiter sein und Schritt für Schritt den Sinn im Leben verlieren.

Genie und Wahnsinn liegen also nah beieinander?

Es gibt viele Studien, die den Zusammenhang von bipolaren Störungen und künstlerischen Berufen erforschen. Dabei kam heraus, dass es unter Künstlern, Schriftstellern, Journalisten und Designern mehr Menschen mit manisch-depressiven Störungen gibt als in anderen Berufen. Es ist aber unklar, ob es die Eigenart der Störung ist, die die Psyche zur schöpferischen Arbeit stimuliert, oder umgekehrt, dass diese Berufe, die keine Stabilität besitzen, psychische Erkrankungen hervorrufen.

Gibt es einen Trend, dass Depressionen zunehmen?

Glaubt man amerikanischen Untersuchungen der letzten Jahre, dann nehmen psychische Erkrankungen weltweit zu. Doch meines Erachtens handelt es sich nicht um ein Problem unserer Zeit. Depressionen gab es schon immer. Früher dachte aber der Mensch ans Überleben. Der heutige Mensch bemerkt gemäßigte  Depressionen eher. Deshalb erscheint es uns, als ob es mehr Depressive gäbe.

Was haben Sie als Nächstes vor?

Zurzeit drehen wir mit Freunden  einen Teaser für eine Crowdfunding Kampagne. Wir möchten einen Dokumentarfilm für das russische Fernsehen produzieren, damit selbst die Hausfrau in der Provinz versteht, was man bei Depression machen kann. Das ist uns wichtig.

Das Interview führte Katharina Lindt.

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