Masse und Muse: Rammstein-Sänger in Moskau bestürmt

Stundenlang anstehen für eine Unterschrift – das kennt man in Russland von diversen Ämtern. Doch jetzt ist es freiwillig passiert: Das Moskauer Einkaufszentrum „Columbus“ erlebte einen mittleren Ausnahmezustand, als ein gewisser Till Lindemann aus Deutschland dort seinen Gedichtband „In stillen Nächten“ signierte.

Mit dieser Menge ließe sich auch eine Konzerthalle füllen: Die Schlange gilt aber der Buchpremiere von Till Lindemann. / RIA Novosti

Mit dieser Menge ließe sich auch eine Konzerthalle füllen: Die Schlange gilt aber der russischen Buchpremiere von Till Lindemann. / RIA Novosti

Die Fans sind aus dem Häuschen. Sonderpolizei mit Hunden durchkämmt den Buchladen. Reporter machen das Treiben selbst verrückt, fragen sich laut, aus welcher Richtung er wohl kommen werde und ob man sich denn auch selbst ein Autogramm sichern könne. Ein Kameramann älteren Semesters schaut sich fragend um: „Sagt mir mal jemand, wie er denn aussieht, damit ich weiß, auf wen ich draufhalten soll?“ Die Kollegen runzeln nur die Stirn. Wachleute halten Jugendliche zurück, die die Absperrung zu durchbrechen versuchen. „Jetzt wird’s ernst“, verkündet ein Fernsehkorrespondent. Und dann ist er plötzlich da. Till.

Till Lindemann, 53 Jahre, ganz in Schwarz gekleidet und mit Leibwächter an seiner Seite, nimmt um 16 Uhr in der Buchhandlung Platz. Der Moskauer Verlag Eksmo, in dem sein Gedichtband „In stillen Nächten“ auf Russisch erschienen ist, hat zu einer Signierstunde in eine Einkaufsmall im Süden der Stadt eingeladen. Die Ersten haben sich an diesem Freitag Mitte November bereits um halb neun angestellt. Als es losgeht, reicht die Schlange hunderte Meter weit. Der Verlag wird später von 4000 Menschen sprechen, die teils stundenlang in ihr ausgeharrt hätten. Es sind junge Leute mit gefärbten Haaren darunter, schwangere Frauen, bärtige Rocker und sogar Alte. Angeführt wird die Schlange von einer Rentnerin im lila Mantel.

Diesmal sang er nicht: Till Lindemann. / Anastassija Buschujewa

Diesmal sang er nicht: Till Lindemann. / Anastassija Buschujewa

Bis zum Abend ist die Erstauflage des Buches mit 10.000 Exemplaren vergriffen, teilweise schon unter die Leute gebracht, bevor der Autor überhaupt eingetroffen war. So wurden dessen Gedichte in der Menge bereits rezitiert, während man sich noch die Wartezeit vertrieb. Zum Beispiel „Kindheit“: „Der Schorf von frühen Wunden / Bleibt gerne auf der Seele kleben.“ Meist geht es in Lindemanns Versen aber ganz anders zur Sache. Seine Lyrik ist voll von sexuellen Bezügen und physiologischen Einzelheiten. In Russland ist der Band erst ab 18  Jahren freigegeben. „Er traut sich was, hat keine Angst vor Kritik, gerade das liebe ich an ihm“, meint ein weiblicher Fan.

Lindemanns erste Gedichtsammlung „Messer“ wurde in Russland nicht veröffentlicht. Hier kannte man ihn bisher nur als Frontmann von Rammstein, das ist auch der Grund für den Auflauf. Die deutsche Band hatte zuletzt am 19. Juni in Moskau gespielt, nach dem Konzert im neuen Fußballstadion von Spartak war es zum Eklat gekommen. Eine Fotomontage von Lindemann in Putin-T-Shirt und ein falsches Zitat machten die Runde. Der Sänger fand das nicht lustig, ist nun aber doch wieder nach Moskau gereist.

Die Popularität von Rammstein in Russland ist dem bekannten Musikkritiker Artemij Troizkij bisweilen „rätselhaft“, wie er sagt. Er erklärt sie sich so: „Die Wenigsten verstehen ihre Texte. Sie verstehen eher den Duktus der Musik. Er ist totalitär, mit Anklängen bei Märschen, Pionieren, Komsomolzen. Das ist den Russen seltsam vertraut.“ Viele nähmen das allerdings für bare Münze, ohne die Ironie dahinter zu bemerken.

Rammstein sei, so Troizkij, nicht das einzige Beispiel für gewisse Gemeinsamkeiten der Musikgeschmäcker in Deutschland und Russland. So hätten sich auch Modern Talking und Boney M nirgendwo sonst im Ausland solcher Beliebtheit erfreut. Die englische Gruppe Smokey, in England längst vergessen, habe in Deutschland und Russland nach wie vor viele treue Fans. Wie es in dieser Beziehung mit Rammstein weitergeht? Troizkij  sieht die Band auf dem absteigenden Ast, was aber auch sein Gutes habe: „Sie ist schillernd, hat ihren eigenen Witz. Und Witze sind bekanntlich am besten, wenn sie kurz sind.“

Anastassija Buschujewa

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