Peredelkino: Neues Leben in alter Siedlung

Der Moskauer Vorort Peredelkino ist bekannt dafür, dass dort viele große sowjetische Schriftsteller lebten und arbeiteten. Während sich ihre zu Museen umfunktionierten Datschas in einem passablen Zustand befinden, machte das „Haus des Künstlerischen Schaffens“ lange einen bedauernswerten Eindruck. Zuletzt wurde es restauriert und ist jetzt einer der meistbesuchten Orte in Peredelkino. Dort kann man einen ganzen Tag verbringen.

Das Kulturhaus Peredelkino ist ein typisches Beispiel für stalinistische Architektur. (Foto: Sergej Kiselew/AGN Moskwa)


Denken wir an Lew Tolstoi und den Ort, wo er arbeitete und lebte, stellen wir uns sofort Jasnaja Poljana vor. Reden wir aber von Peredelkino, erscheinen vor unserem geistigen Auge Boris Pasternak (und sein Roman „Doktor Schiwago“, der den Nobelpreis bekam), die Dichter Arseni Tarkowski (der Vater des Regisseurs Andrej Tarkowski), Jewgeni Jewtuschenko, Bella Achmadullina und viele andere.

Hotel und Kulturhaus zugleich

Vom Kiewer Bahnhof braucht man mit der Elektritschka (das ist ein Vorortzug) nur ganze 20 Minuten bis nach Peredelkino. Aber man hat den Eindruck, in eine Zeitmaschine eingestiegen zu sein, denn es geht zu Besuch zu den Lieblingsschriftstellern, ohne jedoch von ihnen eingeladen worden zu sein.

Die Siedlung ist nicht sehr groß, aber man kann sich trotzdem in ihr verirren, denn es gibt keine Hinweisschilder, wo wessen Datscha zu finden ist. Man muss die digitale Karte im Telefon zu Hilfe nehmen. Was man jedoch ohne Karte und fremde Hilfe finden kann, ist das Haus des Künstlerischen Schaffens. Es ist ein besonderes Territorium, umgeben von einem Zaun, der einen großen Park umschließt, dessen Wege und Pfade alle zu dem zweigeschossigen Haus, das im Jahre 1955 im Stil der Stalinzeit errichtet wurde, führen.

In diesem Haus, das im Prinzip ein Hotel war, lebten und arbeiteten die Schriftsteller, die keine eigene Datscha in Peredelkino bekommen hatten. Sie kamen für lange Aufenthalte hierher und konnten in aller Ruhe arbeiten. Die Bedingungen waren eher bescheiden. Gemeinschaftsbad und Toilette auf der Etage, die Zimmer waren ziemlich klein, da passten nur ein Bett, ein Schreibtisch und ein Stuhl hinein. Gleich neben dem Haus stand der Klub mit einer Kantine, einer Bibliothek, einem Kinosaal und einem Billardzimmer.

Abramowitsch kümmert sich

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion brauchte das Haus niemand mehr und es verfiel langsam. Es wäre auch ganz verrottet, wenn sich nicht Roman Abramowitsch seiner angenommen hätte. Der Unternehmer investiert in letzter Zeit aktiv in russische gesellschaftliche Projekte. Das bekannteste davon ist im Moment Neu Holland in St. Petersburg, wohin das gesamte Partyleben aus der Innenstadt umgezogen ist. Peredelkino ist natürlich viel kleiner, aber an hippem Publikum mangelt es hier auch nicht.

2020 wurde die „Autonome Nonprofit-Organisation zum Erhalt des kulturellen Erbes des Hauses des Künstlerischen Schaffens Peredelkino“ ins Leben gerufen, deren Gründer nicht Abramowitsch selbst, sondern sein Partner Andrej Gordilow ist. Seit es diese Organisation in Peredelkino gibt, pulsiert hier das Leben. Das Haus und die Museen der Schriftsteller gehören zwar dem Staat, aber mit privaten Geldern hat sich dieser Ort sehr verändert!

Sowjetischer Chic

Das Haus selbst und der Klub wurden restauriert, dort finden heutzutage Ausstellungen zu literarischen Themen, Begegnungen mit zeitgenössischen russischen Schriftstellern und Verlegern statt. Die Restaurationsarbeiten wurden dermaßen gekonnt ausgeführt, dass die Besucher nicht das Gefühl haben, sich in modernen Räumen zu befinden. Die Atmosphäre eines stilvollen sowjetischen Kulturhauses wurde bewahrt. Es scheint, als ob man in einen Film von Wes Anderson geraten sei, hätte er denn einen Streifen mit Sowjet-Charme gedreht.

Alle Bücher in der Bibliothek können frei ausgeliehen werden. (Foto: Sergej Kiselew/AGN Moskwa)

Youtube-Blogger zeichnen hier ihre Beiträge auf und Social-Media-Nutzer schießen Fotos im neuesten Look. In die Bibliothek kommt man ohne Leserausweis. Dort werden die Werke der Autoren, die hier gelebt haben, mit ihren Widmungen aufbewahrt. Man kann sich ein Buch nehmen, damit auf den Balkon gehen, sich in einen der bequemen Sessel setzen und bis zum Sonnenuntergang lesen. Wer nicht lesen möchte, kann Dame oder andere Spiele spielen, Kaffee trinken oder in den Hängematten im Park abhängen.

Besucherfreundlicher als die Museen

Der Eintritt in fast alle Räume des Hauses, außer zu speziellen Ausstellungen, ist frei. Es gibt kein Aufsichtspersonal, das aufpasst, welcher Besucher wie und wohin geht und was er macht. Diese Freiheit ist sehr anziehend für das Publikum. Es gibt aber auch Führungen über das Gelände. Falls Sie jedoch Ihren Besuch am Wochenende planen, sollten sie vorher buchen.

Außerdem wurde das Haus des Künstlerischen Schaffens wieder eine literarische Residenz, Schriftsteller und Übersetzer können hier eine Weile wohnen, „die Luft der Literatur“ atmen und an ihren Werken arbeiten.

Dieser Teil der Siedlung ist sehr aufgeschlossen und gastfreundlich, besonders im Vergleich zu den Schriftstellerdatschas, die Museen sind. An Wochenenden sind sie nur kurz geöffnet, bis 17 Uhr, deshalb begeben sich die enttäuschten Besucher in das Haus des Künstlerischen Schaffens und trinken Cappuccino mit Kokosmilch.

In Peredelkino gibt es viele Ecken für ruhige Freizeitaktivitäten. ((Foto: Sergej Kiselew/AGN Moskwa)

Ljubawa Winokurowa

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