Knapp 20 Minuten braucht die Elektritschka, wie die Russen den Nahverkehrszug nennen, vom Kiewer Bahnhof nach Peredelkino. Die Fahrt kostet gerade mal 36 Rubel (ca. 50 Cent) und bietet bereits einiges an Unterhaltung: Kaum hat der Zug die Stadt verlassen, betreten Verkäufer den Waggon. Von Wäscheleinen über Selfie-Sticks und Eis ist alles Mögliche zu haben. Am Bahnhof angekommen, ist es noch etwa ein Kilometer zu Fuß zum bekanntesten Ausflugsziel der Siedlung: der Datscha des Dichters Boris Pasternak. Es empfiehlt sich, einen Plan der Siedlung zur Orientierung dabei zu haben, den man auf der offiziellen Seite von Peredelkino findet.
Das dunkelbraune Holzhaus mit seinen weißen Fensterrahmen und dem etwas rostigen Blechdach, umgeben von Wald, hat etwas Märchenhaftes. Im Aussehen an ein Schiff erinnernd, ist die alte Datscha von Boris Pasternak schon aufgrund ihrer Architektur sehenswert. Sie ist eines von fünf Schriftstellerhäusern, die im Laufe der 1980er und 90er Jahre in Museen umgewandelt wurden und für jeden zugänglich sind. Den außergewöhnlichen Bau ausgedacht hat sich der deutsche Architekt Ernst May, der 1933 mit der Planung der Siedlung beauftragt wurde. Die Idee, Schriftstellern einen Rückzugsort zu gewähren, kam laut Erzählungen von Zeitgenossen während eines persönlichen Gesprächs zwischen Maxim Gorki und Josef Stalin auf, als sich diese über die Lebensumstände ausländischer Schriftsteller unterhielten.
Insgesamt etwa 50 hölzerne Datschen wurden daraufhin in den 30er Jahren für Mitglieder des 1932 gegründeten Schriftstellerverbands der UdSSR in Peredelkino gebaut. Die Mitgliedschaft beim Verband war für sowjetische Schriftsteller unerlässlich. Die strenge staatliche Kontrolle der Literatur musste auch Pasternak erfahren: Für seinen Roman „Doktor Schiwago“, in Italien publiziert, wurde er aus dem Verband ausgeschlossen; das Buch verboten. Auch den Nobelpreis, der ihm 1958 dafür verliehen wurde, nahm er aufgrund des Drucks von oben nie entgegen. Im PasternakMuseum kann man seinen Schreibtisch sehen und sich vorstellen, wie er sich die Figur des Intellektuellen „Schiwago“ ausgedacht hat, dessen Überzeugungen in Konflikt geraten mit der sozialistischen Realität.
Solche Alltagsgegenstände, darunter ein Exemplar des ersten sowjetischen Fernsehers, machen das Museum aus. Man fühlt sich in der Zeit zurückversetzt. Manche der Exponate haben über die Zeit hinweg einiges mitgemacht: Ein Konzertflügel, zu sperrig für die Türen des Hauses, wurde beim Auszug der Familie 1984 mit einer Axt zerlegt und später in den Werkstätten des Bolschoi-Theaters restauriert. Wer das Pasternak-Museum allerdings ohne Vorwissen über die Geschichte des Ortes besucht, sollte im Voraus eine Führung buchen. Diese gibt es nicht nur auf Russisch und Englisch, sondern auch auf Deutsch.
Denn neben Touristen aus China oder Australien, ziehe es besonders viele Deutsche nach Peredelkino, erklärt eine Museumsmitarbeiterin. Besucher von Peredelkino sollten sich neben dem Pasternak-Museum auch die Galerie des Dichters, Fotografen und Filmemachers Jewgenij Jewtuschenko nicht entgehen lassen, die sich nur wenige Gehminuten entfernt befindet. „Sie haben heute bei uns vorgelesen und mich zu Tränen gerührt. Ich bin überzeugt von Ihrer glänzenden Zukunft.“ Mit diesen Worten lobte Boris Pasternak in einer in der Galerie ausgestellten Buchwidmung Jewtuschenkos literarisches Talent.
Unter den in Peredelkino lebenden Schriftstellern habe ein reger Austausch stattgefunden, viele seien befreundet gewesen, erzählt die Leiterin der Galerie. Sie hat den 2017 verstorbenen Jewtuschenko einige Male getroffen und schwärmt: „Er hat das Leben und die Menschen geliebt. Er ist ein Vorbild für uns alle.“
Jewtuschenko reiste in 97 Länder und kehrte von jeder Reise mit beeindruckenden Fotografien zurück. Hunderte davon hängen jetzt an den hohen Wänden der Galerie. Verlässt man den Raum mit den Fotografien, stößt man außerdem auf Gemälde und Skulpturen weltbekannter Künstler wie Pablo Picasso, Joan Miró, Marc Chagall oder Max Ernst. Die meisten erhielt Jewtuschenko, der rege in der globalen Kunstszene verkehrte, von den Künstlern persönlich geschenkt.
Um diese Eindrücke zu verarbeiten und die Atmosphäre des Dorfes noch weiter auf sich wirken zu lassen, ist ein Spaziergang durch den Wald, der das ganze Dorf umgibt, zum Schluss genau das Richtige.
Leonie Rohner