Über die Verhaftung von Pawel Durow, dem Gründer des russischen sozialen Netzwerks VK und des Messengers Telegram, am Pariser Flughafen ist nicht viel bekannt. Es gibt keine Fotos, keine Videos und keine Stellungnahmen seiner Anwälte. All dies bietet reichlich Stoff für Spekulationen aller Art. Was wäre, wenn es sich gar nicht um eine Verhaftung handelt, sondern Durow einfach nach Frankreich geflogen ist, um einen Deal mit der französischen Justiz und im weiteren Sinne mit der westlichen Welt zu machen? Eine weitaus interessantere Version des Geschehens wurde von der türkischen Zeitung „Sabah“ angeboten. Mit der Verhaftung von Durow erfüllte Frankreich angeblich den Auftrag Israels, weil „sie antizionistische Nachrichtensender abschalten wollen, die von Telegram nicht zensiert werden“.
Schon immer gab es viele Gerüchte und Spekulationen um den etwas exzentrischen Unternehmer und seine Projekte. Diesmal war die Diskussion über Durows Persönlichkeit in den russischsprachigen Medien und sozialen Netzwerken, die durch die Nachricht von seiner Verhaftung ausgelöst wurde, jedoch nicht so heftig wie die Auseinandersetzungen über die grundlegenden Prinzipien der Interaktion zwischen Gesellschaften, Freiheiten und Verantwortung.
Gestern getadelt, heute gelobt
Allerdings können sich die Grundsätze und Einschätzungen im Laufe der Zeit etwas ändern. Russische Fernsehsender berichten von Menschen vor der französischen Botschaft in Moskau, die Papierflugzeuge mit dem Hashtag #freedurov hinterlassen. Das russische Außenministerium ist bereit, Durow nach Kräften zu helfen. Der ehemalige US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden, der vor der amerikanischen Justiz nach Russland geflohen ist, sagte, er sei „überrascht, dass Macron sich zu einer Geiselnahme herablässt“. Es scheint, dass buchstäblich jeder, der die Situation in den russischen Fernsehkanälen kommentiert, Durow fast für einen Helden hält.
Darunter sind auch diejenigen, die sich früher für ein Verbot von Telegram in Russland ausgesprochen und den Wunsch der Sicherheitsdienste, ohne Gerichtsbeschluss direkten Zugriff auf die Korrespondenz von Russen in diesem Messenger zu erhalten, voll unterstützt haben. Die französische Justiz, die jetzt vom russischen Fernsehen gebrandmarkt wird, will mehr oder weniger das Gleiche. Wenn nicht Verschlüsselungsschlüssel, dann eine strengere Moderation des Messengers durch Durow und sein Team.
Ist er mitverantwortlich?
Ist der Eigentümer der Plattform verantwortlich für das, was auf ihr passiert? Neben gesetzestreuen Nutzern beherbergt Telegram auch alle Arten von Marginalisierten und Kriminellen. Wenn das Management der Plattform nicht mit dem Staat zusammenarbeitet, um Drogenhändler und Vertreiber von Kinderpornografie zu fangen, macht es sich dann nicht zum Mittäter des Verbrechens?
Ein weiterer Vorwurf, der im russischsprachigen Teil des Internets auftritt, betrifft den militärischen Aspekt. Ein Teil der russischsprachigen sozialen Netzwerke und des russischsprachigen YouTube sind ukrainische und proukrainische Nutzer. Ihr Jubel über die Verhaftung von Durow ist verständlich: Telegram ist in ihren Worten zu einem „Kriegswerkzeug“ geworden. Das bestätigen auch russische Frontberichterstatter. Einige Journalisten bezeichnen Durow sogar als den „Chef der Kommunikation der russischen Streitkräfte“. Konstantin Klimenko, Rektor der Eurasischen Internationalen Universität in Moskau, hält Durow dagegen für friedensnobelpreiswürdig. Er hat bereits eine offizielle Bewerbung an das Nobelkomitee geschickt, die er am 27. August per Telegram bekannt gab.
Telegram als die letzte Hoffnung
Ein sehr großer Teil der Russen sieht Durows Hauptverdienst jedoch in etwas anderem. In Russland sind die Strafverfolgungsbehörden nicht nur damit beschäftigt, Drogenhändler zu fangen oder Zellen islamischer Terroristen zu identifizieren. Jede unbedachte Äußerung, die nach Ansicht der Behörden die Armee in Misskredit bringt, kann ein Grund für ein Strafverfahren sein. Das gilt auch für Kritik an Beamten. Selbst wenn es um einen Beitrag geht, den nur fünf Personen gesehen haben. Eine solche Äußrung in einem persönlichen Austausch auftaucht kann ebenso ein Grung für Verfolgung sein. Wir sprechen hier nicht von Marginalisierten, Rechts- oder Linksextremisten oder Verschwörungstheoretikern, auch wenn Telegram in Europa mit genau solchen Leuten in Verbindung gebracht wird. Im russischen Kontext ist dieser Messenger eine Überlebensform für die oppositionellen Medien und eine Plattform für die Verbreitung unabhängiger Meinungen, die wohl keiner in ganz Europa, das Telegram skeptisch gegenübersteht, für extrem halten kann.
Maria Prusakowa, eine Abgeordnete der Staatsduma aus dem Altai-Gebiet, versuchte vergeblich, das Recht zu erhalten, in einem aus dem Haushalt finanzierten lokalen Fernsehkanal über ihre Arbeit zu berichten. Zu der Ablehnung sagte sie, dass sie die Wähler nur mit Hilfe von „Durows Produkten“ erreichen könne. Und fügte hinzu: „Halte durch, Pawel, gib die Schlüssel nicht aus der Hand, du bist die letzte Hoffnung für die Meinungsfreiheit in der Altai-Region.“
Igor Beresin