Die Single „2003“ – das Geburtsjahr von Deutschrapper Liaze – erschien am 20. Oktober. Ein Ereignis ist so etwas normalerweise nicht. Diesmal war es jedoch anders. Gleich in der ersten Woche explodierten die Aufrufzahlen, insbesondere auf TikTok und Instagram*, später auch auf Youtube. Der Grund dafür mag sein, dass der Song gekonnt mit Bezügen zur russischen Kultur und Sprache spielt. Und auch russische Originaltöne gibt es in Form eines Samples des bekannten Geburtstagslieds „Pust begut neukljusche“ der sowjetischen Trickfilmfigur Krokodil Gena.
Liaze stimmt da problemlos mit ein. Denn Elias Reiswich, wie er in Wirklichkeit heißt, ist zwar in Frankfurt/Main geboren und lebt heute in Nordrhein-Westfalen, seine Eltern stammen jedoch aus Russland. Das hat vor allem Kindheit und Jugend des Rappers geprägt, was er in seinem Hit verarbeitet. Textzeile: „Russian Guy, für die Deutschen war ich fremd in diesem Land und währenddessen für die Russen viel zu deutsch.“
Das klingt nach einer Geschichte, wie sie viele junge Russlanddeutsche erlebt haben könnten. Die MDZ hat einige gebeten, von ihren Integrationserfahrungen zu erzählen.
Alina Schweigert (19), Schülerin, Hanau
Wir sind im Juni 2021 nach Deutschland gezogen. In Russland hatten wir in Zwetnopolje (Region Omsk) gelebt und ich hatte dort gerade die Schule abgeschlossen. Nach der Übersiedlung wurde mein Zeugnis anerkannt und ich konnte mich in einem deutschen Gymnasium anmelden.
Ich hatte keine Integrationsklasse und bekam vom ersten Tag an Noten. Wenn ich etwas nicht verstand, dann halfen mir meine Mitschüler, wenn ich sie darum bat. Ich kam gut mit allen aus. Meine Klassenkameraden fragten viel über Russland. Sie wollten mir zum Beispiel nicht glauben, dass es bei uns in Sibirien bis zu 40 Grad warm werden kann, was gerade zum Zeitpunkt unserer Abreise der Fall gewesen war.
Viele haben sich auch für unsere Schuluniform interessiert. Während ich am ersten Tag in Stoffhose und weißer Bluse zur Schule kam, saßen die anderen in Jeans, Shorts und sogar Flip-Flops da. Ich fand das absurd, aber für sie war das normal, und sie sahen mich mit großen Augen an.
Jetzt gehe ich auf die Ludwig-Geißler-Schule in Hanau, wo ich an einem zweijährigen Sonderlehrgang teilnehme. Er erlaubt Spätaussiedlern, einen Abschluss zu erlangen, der dem Abitur entspricht.
Das Lied von Liaze wurde mir auf TikTok von meiner Schwester geschickt. Dann habe ich selbst Videos gesehen, die deutsch-russische Paare dazu gemacht haben. Sehr cool, das Lied versetzt mich in meine Kindheit zurück. Es freut mich, dass man auf diese Weise seine Geschichte erzählen kann.
Ich halte immer noch Kontakt zu meinen Freunden in Russland. Anfangs hatte ich Bedenken, dass es schwer werden könnte, mich in Deutschland anzupassen. Aber ich habe damit keine Probleme. Anderen stelle ich mich als Deutsche vor, mit der kleinen Besonderheit, dass ich in Russland geboren wurde.
Eugen Blattner (38), IT-Entwickler, Würzburg
Ich war knapp sechs Jahre alt, als ich mit meiner Familie nach Deutschland kam. Das war im Herbst 1991, es regnete, als wir aus dem Flugzeug stiegen. Das war mein erster Eindruck von Deutschland. Schon das Wetter unterschied sich von dem in Schachtinsk (damals Sowjetunion, heute Kasachstan), wo ich aufgewachsen bin.
Die Einwanderung war erst einmal dadurch geprägt, dass wir ein bisschen wie Nomaden waren. In der ersten Unterkunft blieben wir zwei Wochen, in der zweiten fast ein Jahr, in der dritten drei Jahre.
Von Anfang an, vom Augenblick unserer Ankunft, war der Wunsch da, dass niemand fragen sollte, wo wir herkommen. Vor allem meine Mutter wollte unbedingt, dass wir nicht als Russen wahrgenommen werden, sondern uns so schnell wie möglich integrieren. Sie wollte, dass wir eine glückliche Familie bleiben, und sie wusste, dass das am besten klappen würde, wenn wir wie die Deutschen wären. Bis zu einem gewissen Grad hat sie damit auch Recht gehabt, würde ich sagen. Dass wir hier Arbeit gefunden und uns eine Existenz aufgebaut haben, verdanken wir unserer schnellen Integration.
In meinem Freundeskreis war ich immer erst einmal „der Russe“. Das hat sich ziemlich lange hingezogen. Bis zur 7. Klasse hatte ich immer noch einen leichten russischen Akzent. Aber seitdem wundern sich die Leute, wenn ich ihnen sage, dass ich gar nicht in Deutschland geboren bin.
Mit 22 Jahren habe ich Verwandte in Russland besucht. Zu dem Zeitpunkt waren mein Russisch und meine Verbindung zur russischen oder sowjetischen Kultur fast auf dem Nullpunkt angekommen. Eines Abends waren mein Bruder und ich mit einheimischen Russen unterwegs. Irgendwie kamen wir uns sofort nahe. Ich war fasziniert von dieser Willkommenskultur, Offenheit und Freundlichkeit. Und das hat etwas mit mir gemacht. Ich wollte diese Kultur nicht verlieren.
Anschließend habe ich meinen Eltern gesagt, dass wir zu Hause wieder mehr Russisch sprechen müssten. Das war für mich selbst besonders frustrierend, weil ich der Einzige in der Familie war, der kaum mehr Russisch konnte. Aber das hat sich geändert. Meine Frau ist Russin, zu Hause wird bei uns Russisch gesprochen. Aber ich weiß, wenn ich heute von Russland rede, ist es in meinem Unterbewusstsein immer noch wie früher, dieses sowjetische und alte Russland, wie im Video von Liaze.
Elena Emrikh (26), Projektkoordinatorin, Berlin
Es gibt viele Dinge, die mir in Deutschland gefallen, aber ich vermisse gerade die Freiheit in Bezug auf die Natur. Überall gibt es viele Regeln, was man zu tun und zu lassen hat. Einerseits ist es ja gut, dass Ordnung herrscht, aber andererseits fehlt den Deutschen oft die Flexibilität im Denken.
Meine Mutter und ich kamen im Januar 2022 nach Deutschland, zunächst nach Friedland, dann wurden wir nach Berlin geschickt. Wir haben fast ein Jahr in einem Wohnheim mit anderen Spätaussiedlern und Flüchtlingen gewohnt, bis wir Wohnungen für uns hatten, zuerst ich, danach auch meine Mutter. Sie ist jetzt 67 Jahre alt, ihr fällt es nicht leicht, die deutsche Sprache zu erlernen.
Ich versuche auf jeden Fall, überall nach Möglichkeit Deutsch zu sprechen. Einmal, auf meiner ersten Busfahrt in Deutschland, hat der fröhliche Fahrer sich mit mir unterhalten und etwas erzählt, aber ich konnte außer „ja, ja, ja“ nichts Vernünftiges antworten. Das hat mich echt genervt.
Jetzt mache ich einen Sprachkurs, obwohl man sagen muss, dass es in Berlin kein Problem ist, Fragen auf Englisch zu klären. Wenn man die ältere Generation auf Englisch anspricht, reagieren die Leute zwar zuerst schüchtern, dass sie es ja versuchen können. Aber dann stellt sich oft heraus, dass sie fast so gut Englisch sprechen wie ich Russisch.
* Instagram gehört dem Unternehmen Meta, das in Russland als „extremistische Organisation“ gelistet und verboten ist.
Maria Bolschakowa