Eines vorweg: Wer nur eine gute halbe Stunde von der Haustür zur Arbeit braucht, der hat es gut. Wie ich zum Beispiel: vom Südwesten der Stadt in die MDZ-Redaktion im Stadtteil Chamowniki. Drei Minuten zu Fuß zur U-Bahn, zehn Minuten mit der Metro und nochmal knapp zehn Minuten zu Fuß. Das ist Luxus, denn es liegt deutlich unterm Durchschnitt – im stadt- und landesweiten Vergleich.
Statistik einer Metropole
Chamowniki ist ein Arbeitsstadtteil, wie eine Yandex-Studie für 2016 ergab, die knapp eine halbe Million gespeicherter Start- und Endpunkte ausgewertet hat. Von insgesamt 15 000 Navigations- punkten sind hier gerade einmal 19 Prozent als „Zuhause” bezeichnet. Solche Arbeitsgegenden liegen im Stadtzentrum und am Flughafen Wnukowo. Sie stellen neun Prozent des Stadtgebietes dar. Die „fleißigste” Gegend ist der Südwesten.
Etwas über die Hälfte der Bezirke sind demnach reine Wohngebiete wie Otradnoje und Jasenowo sowie die meisten Vorstädte im Moskauer Gebie, zum Beispiel Chimki. Alle übrigen Gebiete sind Mischbezirke wie Nikulino-Troparjowo, Konkowo oder auch Domodedowo.
Eine logische Folge dieser Zwecktrennung sind besonders lange Arbeitswege: Im Durchschnitt legen die Moskauer 17,9 Kilometer zu ihrem Arbeitsplatz in etwa 40 Minuten zurück. Die berüchtigten Moskauer Staus können diese Zeitangabe, auch das hat die Yandex-Studie ergeben, derweil gar verdoppeln.
» Ich fahre eineinhalb Stunden, von Süden nach Norden. Meist ‚gegen den Strom‘ mit der Elektritschka, da ist weniger los. Unterwegs höre ich Musik, lese und spiele Games. Während du in der Metro x-mal angeniest wirst, ist im Zug die Ventilation besser und die Chance niedriger, dass du dir ein Virus einfängst.
Michail Korneew, Rundfunk Ostankino
Das russische Job-Portal Headhunter hat im Oktober vorigen Jahres dazu eine russlandweite Analyse veröffentlicht: Moskau, St. Petersburg, die Gebiete Moskau und Woronesch stehen an der Spitze der längsten Arbeitswege. Im Krasnojarsker Gebiet dagegen, dem zweitgrößten Bundesland Russlands, sind die Arbeitswege demnach am kürzesten: 73 Prozent brauchen weniger als 30 Minuten zur Arbeit, insgesamt 91 Prozent unter einer Stunde. In den Metropolen Moskau und St. Petersburg brauchen jeweils drei Viertel der Befragten zwischen 30 Minuten und zwei Stunden auf die Arbeit. Im Moskauer Umland fährt knapp die Hälfte täglich eine bis drei Stunden – zum Großteil in die Hauptstadt selbst.
Beste Zeit zum Schmökern
Forscher der schwedischen Umea-Universität haben festgestellt, dass Arbeitswege über 40 Minuten zu 40 Prozent mehr Scheidungen führen. Der Harvard-Politikwissenschaftler Robert Putnam behauptet, jede zehn Minuten mehr Arbeitsweg machen den Menschen einsamer. Und laut dem jährlichen Gallup-Wohlfühlindex bringen sie auch noch mehr Rücken-, Nacken- und Kopfschmerzen. Zumal die meisten Arbeitnehmer mit dem eigenen Pkw zur Arbeit fahren und dabei auch noch passiv sind, sich tendenziell schlechter ernähren und darum insgesamt weniger fit sind.
» Ich brauche 25 bis 40 Minuten – von Tür zu Tür mit dem Bus M6. Da lese ich, höre Musik, schau aus dem Fenster und versuche Georgisch zu lernen.
Lena Steinmetz, Öffentlichkeitsarbeit der AHK
Da liegt auch Russland mit 42 Prozent im weltweiten Trend. Zu Fuß oder mit dem Rad kommen gerade einmal zehn Prozent der von Headhunter Befragten zur Arbeit. Auf Bus, Trolleybus, Marschrutka und Straßenbahn (40 Prozent) folgt gleich die Metro (29 Prozent) – obwohl diese nur in den Großstädten zu finden ist.
Im Gang überfüllter Elektritschkas oder zwischen ein- und aussteigenden Metrofahrgästen: Vor allem morgens wollen Pendler noch Schlaf nachholen. Die meisten allerdings hören Musik (57 Prozent). Beliebt sind auch Internet und Bücher, Zeitungen.
» In der Hauptverkehrszeit brauche ich bis zu zwei Stunden. Manchmal länger als früher aus dem Moskauer Gebiet. Wenn’s gut klappt, dann eine Stunde 15 Minuten. Gut, dass ich nur zwei-drei Mal die Woche fahren muss.
Olga Silantjewa, MDZ-Chefredakteurin
Zeitspar-Versuche
Der Arbeitsweg gilt als eines der wichtigsten Kriterien bei der Job- suche, selbst in Krisenzeiten, wie das Portal Superjob.ru herausfand. Ausschreibungen mit unklarer Ortsangabe blieben demnach länger unbeantwortet. Und auch 75 Prozent der Personaler achten auf den Arbeitsweg, da dieser zum Kündigungsgrund werden kann. Oder die Produktivität des Mitarbeiters senken kann. 63 Prozent der Personalchefs hätten bereits solche Kündigungen erlebt. Andererseits wollen auch die Arbeitnehmer selbst möglichst nah am Wohnort arbeiten. Oder müssen umziehen. Den kürzesten Arbeitsweg haben in Russland, statistisch gesehen, Lehrer (32 Minuten) und Verkäufer (38 Minuten). Die längsten Ärzte (54 Minuten) und Unternehmensleiter (57 Minuten). Letztere haben oft einen persönlichen Fahrdienst.
Letzterer ist oft auch ein Lösungsansatz in Unternehmen mit Spät- oder Nachtarbeit. So gibt es in staatlichen Einrichtungen ab 23 Uhr oft einen Fahrdienst, der die Mitarbeiter in Moskau und Umgebung heimbringt, wenn der öffentliche Nahverkehr bereits steht.
» Von der Küche, wo ich frühstücke, in das Zimmer, wo ich schreibe, ist der Weg nicht allzu weit.
Denis Dragunsky, Publizist
Und in Bereichen vor allem kreativer Arbeit wird in den Metropolen zunehmend Heimarbeit populär. Ob Journalisten, Designer, Schriftsteller oder auch Programmierer – in Moskau schaffen schon vier Prozent „von zuhause aus“, in der Kulturstadt St. Petersburg sind es gar fünf Prozent. Tendenz steigend – denn dank der technischen Möglichkeiten über Messenger und Internet ist das immer leichter zu realisieren.
Infobox: Weltweit Das schweizerische Unternehmen für Bürolösungen Regus hat übrigens erhoben, dass ein Fünftel der Weltbevölkerung über 90 Minuten zur Arbeit fährt, der Durchschnitt liegt bei 25 Minuten. Spitzenzeiten gäbe es mit 33 Minuten in China, in den USA und Kanada geht es mit 16 Minuten am schnellsten.
Von Peggy Lohse