
Aufbewahren aber nicht aushändigen
Oleg Nowossjolow aus Jekaterinburg interessiert sich seit seiner Jugend für die Geschichte seiner Heimatregion. „Ich habe dabei oft Dokumente von unterdrückten Stadteinwohnern gesehen und dieses Thema hat mich angezogen“, sagt er. Im Jahr 2018 kam Oleg als Freiwilliger von „Memorial“ (damals war die Organisation mit diesem Namen noch nicht als ausländischer Agent eingestuft) ins Archiv und begann, die Akten bekannter Repressionsopfer zu studieren. Seitdem verbindet er die Archivarbeit mit seiner Hauptbeschäftigung und schreibt über seine Funde im Telegram-Kanal „Repressionen in Swerdlowsk“.
Im Jahr 2025 änderte sich alles: Oleg wurde die Herausgabe der Akten verweigert. „Ich hatte die Akten bestellt. Ich habe daran gearbeitet und geplant, wiederzukommen und den Rest zu erledigen. Aber dann rief man mich an und sagte mir, dass die Akten nicht mehr verfügbar sind. ‚Leider können wir sie Ihnen nicht aushändigen. Wir haben Anweisung von der Leitung, alle Akten zu sperren. Jetzt werden sie nur noch an Verwandte ausgehändigt.‘“ So lautete die Begründung.
Dies widerspricht den Bestimmungen des Föderalen Gesetzes „Über das Archivwesen in der Russischen Föderation“. In Artikel 25 sind zwei Gründe aufgeführt, aus denen der Zugang zu Archivakten eingeschränkt werden kann. Das sind das Vorliegen von Informationen, die ein Staatsgeheimnis darstellen, und das Recht auf Geheimhaltung familiärer und persönlicher Informationen. Das gilt 75 Jahre ab dem Zeitpunkt der Erstellung des Dokuments. Wenn beispielsweise eine Personalakte 1956 angelegt wurde, kann sie erst 2031 ohne Nachweis der Verwandtschaft eingesehen werden. In den Akten, mit denen Oleg gearbeitet hat, gibt es weder Staatsgeheimnisse noch geschützte Informationen über das Privatleben, da seit den 1930er Jahren bereits mehr als 75 Jahre vergangen sind.
Auf Olegs Einwände hat das Archiv geantwortet, dass es eine Anordnung von Rosarchiv gibt und fortan Archive die Akten nur an Verwandte der Repressionsopfer ausgehändigen dürfen.
Die erwähnte Anordnung wurde am 20. März 2025 unterzeichnet. Sie legt das Verfahren fest, nach dem Archivdokumente als „Dokumente mit vertraulichen Informationen mit eingeschränkter Weitergabe“ eingestuft werden. Darunter versteht man „nicht geheime Informationen, deren Weitergabe eine potenzielle Gefahr für die Interessen der Russischen Föderation darstellen kann“.
Das heißt, dass Rosarchiv nun alle Materialien, die in staatlichen und kommunalen Archiven aufbewahrt werden, dieser Kategorie zuordnen kann. In der Verordnung selbst wird kein Wort über die Fälle der Repressierten verloren, aber viele Forscher haben die aufgetretenen Probleme bereits mit den Neuerungen von Rosarchiv in Verbindung gebracht. In den Regionen Tscheljabinsk und Kostroma seien bereits Schwierigkeiten beim Zugang zu Archiven zu beobachten, berichtete RBC.
Der Anwalt Wladimir Redekop wandte sich an die Administration des russischen Präsidenten, um eine Stellungnahme zu der neuen Regelung zu erhalten. Dort wurde ihm mitgeteilt, dass in den Archiven Millionen von Akten mit „sensiblen Informationen“ offen zugänglich seien und gegen Russland verwendet werden könnten (z. B. von Ausländern oder „ausländischen Agenten“). Daher müssten sie „unter den Bedingungen eines beispiellosen wirtschaftlichen, politischen und informativen Drucks auf die Russische Föderation“ geschützt werden.
Aus dem Archiv vor Gericht
Den Zugang zu den Akten zu erhalten, ist manchmal auch für Familienangehörige nicht leicht. Mein Urgroßvater arbeitete in den 1930er bis 1950er Jahren als Ermittler in der Moskauer Abteilung des NKWD-MWD. Ich habe seine Personalakte bei der FSB-Behörde für Moskau und die Region Moskau angefordert. Die Akte wurde gefunden, aber mir nicht ausgehändigt. Solche Dokumente werden nicht einmal den Verwandten gezeigt.
Damals habe ich dem keine Bedeutung beigemessen, ich brauchte in erster Linie eine Archivbescheinigung für meine genealogische Recherche. Die habe ich bekommen. Darin standen die wichtigsten biografischen Daten: Mein Urgroßvater wurde 1913 in einer armen Familie in der Region Nowosibirsk geboren und zog in den 1930er Jahren nach Moskau, um am Institut für Fischereiindustrie zu studieren. 1937, während des Großen Terrors, schloss er sich dem NKWD an und wurde Mitglied der kommunistischen Partei. Während des Krieges ging er an die Front und kam bis nach Berlin.
Der größte Teil der Auskunft bezog sich auf die Kriegszeit, was mich sofort verwirrte: Wo waren die detaillierten Informationen zumindest über die Posten, die mein Urgroßvater im NKWD innehatte? Ich bat erneut um Auskunft und erhielt folgende Antwort: „Eine Antwort auf die Frage kann ohne Offenlegung von Staatsgeheimnissen nicht gegeben werden.“ Welche Geheimnisse? Ist die Akte geheim? Es stellte sich heraus, dass ja, sie wurde 1937–1938 unter Verschluss genommen. Und im März 2014 beschloss die Kommission zum Schutz von Staatsgeheimnissen, die Geheimhaltungsfrist für zu Sowjetzeiten als geheim eingestufte Dokumente zu verlängern. Darunter fiel auch die Akte meines Urgroßvaters.
In Russland gibt es ein Gesetz über Staatsgeheimnisse. Darin heißt es jedoch, dass Informationen über Verletzungen der Menschen- und Bürgerrechte nicht geheim gehalten werden dürfen und dass die maximale Geheimhaltungsfrist 30 Jahre beträgt. Unter Hinweis darauf habe ich als Verwandter Ende 2023 einen Antrag auf Freigabe der Akte gestellt, in der Hoffnung, sie im Lesesaal einsehen zu können. Aber mein Antrag wurde abgelehnt. Begründung: Die Akte enthält Informationen über operative Methoden und die personelle Zusammensetzung des Geheimdienstes, deshalb gelten sie in Russland als geheim. Welche operativen Methoden der NKWD-Mitarbeiter in den 1930er Jahren geheim sind, werde ich frühestens 2044 erfahren. Dann wird die Geheimhaltung des Falles meines Urgroßvaters aufgehoben.
Ich wandte mich dann an das Russische Staatsarchiv für Sozial- und Politikgeschichte. Dort werden die Dokumente aller Partei-Mitglieder aufbewahrt. In diesen Unterlagen findet man detaillierte Informationen über den beruflichen Werdegang einer Person. Aus ihnen erfuhr ich, dass mein Urgroßvater Ermittler im NKWD-System in Moskau war und sogar im Zentralamt für Strafvollzug des NKWD und in einem Lager in der Region Woronesch gearbeitet hat. All diese Informationen wurden mir vom Moskauer FSB unter Verweis auf Staatsgeheimnisse vorenthalten.
Aus dem Archiv vor Gericht
Arseni Motowilow (Name auf Wunsch des Protagonisten geändert) beschäftigt sich mit der Geschichte seiner Familie. Sein Urgroßvater Alexander Alexandrowitsch Judin wurde dreimal wegen „terroristischer Verbindungen“ zu Sinowjewisten und später auch zu Trotzkisten angeklagt. Er wurde 1935 in Leningrad verhaftet und von dort nach Surgut deportiert. In Surgut erfolgte 1936 eine erneute Verhaftung sowie eine Verurteilung zu acht Jahren Haft, die er in der Region Wologda verbüßen sollte. Dort wurde er 1937 auf Grundlage eines Beschlusses einer Troika zum Tod durch Erschießen verurteilt. (Die Troikas bestanden aus einem Vertreter des NKWD, einem regionalen Parteiführer und einem Staatsanwalt. Sie waren zwar keine Justizorgane, aber Teil des stalinistischen Repressionssystems – Anm. d. Red.) Arseni wusste davon nichts und glaubte, sein Urgroßvater sei im Gefängnis gestorben. In den 1950er Jahren hatte seine Familie eine Sterbeurkunde erhalten, in der stand, dass Alexander Judin 1943 im Gefängnis von Grjasowezkaja einer Nierenentzündung erlegen sei. Erst 2020 konnte Arseni Zugang zum dritten und letzten Verfahren seines Urgroßvaters bekommen. Er fand einen Auszug aus dem Protokoll: „Alexander Alexandrowitsch Judin, Häftling des Gefängnisses von Grjasowezkaja, ist zu erschießen. Die Akte ist zu archivieren. 1. Dezember 1937.“ Nachdem er Kopien dieses Falles erhalten hatte, wandte er sich an ein russisches Gericht, um die neue Todesursache und das neue Todesdatum von Judin in das Standesamtssystem eintragen zu lassen – erschossen am 1. Dezember 1937 und nicht eines natürlichen Todes gestorben im Jahr 1943.
Sein Antrag wurde jedoch abgelehnt: Es gebe zwar ein Todesurteil, aber keine Urkunde über die Hinrichtung. „Ich argumentierte weiter, dass man ohne Dokumente über die tatsächliche Vollstreckung davon ausgehen sollte, dass mein Urgroßvater am Tag der Urteilsverkündung hingerichtet wurde. Es gab den Beschluss des Zentralen Ausführungskommitees vom 1. Dezember 1934, in dem festgelegt ist, dass Todesurteile unverzüglich vollstreckt werden müssen“, sagt Arseni.
Er wandte sich an höhere Instanzen, wo man ihm aus denselben Gründen eine Absage erteilte. „Sie weigerten sich, ihn als erschossen anzuerkennen, und befanden die alte Sterbeurkunde für gültig. Dann begannen sie sogar offen zu sagen, dass er nicht erschossen worden sei, dass er im Gefängnis gelebt habe und 1943 gestorben sei. Ich würde gerne die Geschichte eines Menschen erfahren, der sechs Jahre nach seiner Verurteilung zu Stalins Zeiten nicht erschossen wurde“, fügt Arsenij hinzu. Auch der Oberste Gerichtshof und das Verfassungsgericht lehnten seinen Antrag ab.
Schon früher war die Arbeit mit den Dokumenten der Repressierten und derjenigen, die diese Repressionen durchgeführt haben, mit verschiedenen Einschränkungen verbunden. Obwohl uns eine immer größere zeitliche Distanz von dieser schwierigen Epoche trennt, werden die Einschränkungen nicht weniger. Im Gegenteil, sie werden verlängert und neue eingeführt. So sind die Zeiten, in denen buchstäblich alles, was uns umgibt, als „Staatsgeheimnis“, „dienstliche Information” und ganz sicher als „sensible Information“ eingestuft und von jedem beliebig interpretieren kann.


