Mit Goethe und russischen Nachbarn durch die Corona-Wochen

MDZ-Autor Frank Ebbecke ist länger in Moskau als die meisten Moskauer und hat hier schon diverse Krisen er- und überlebt. Aber das noch nicht: Weil er zur Kategorie 65+ gehört, betraf ihn die Selbstisolation sogar noch früher als andere. Hier schreibt er über das Aushalten und Innehalten in Zeiten von Corona.

Deutscher Senior in russischer Notgemeinschaft: Frank Ebbecke (Foto: Privat)

Wer mich in diesen Wochen erkennen will, muss mir schon ziemlich tief in die Augen geguckt haben – viel mehr ist bei der streng gebotenen Vermummung nicht zu sehen. Und das nur, um kurz den Müll rauszutragen.

Ich bin in Moskau schon vor 25 Jahren beruflich aufgeschlagen und immer noch rundum glücklich. Na ja, in den letzten Wochen des verordneten Hausarrests so leidlich. Aber da sage ich mir: Was gab es gerade hierzulande nicht schon alles zu überstehen! Wobei derart dramatisch bisher noch keiner und nichts die Notbremse gezogen hat.

Aktuell werden wir permanent mit Zahlen, Prognosen, Vergleichen und Spekulationen bombardiert wie durch regelmäßige Wetterberichte. Beschönigend oder beängstigend, aber meist gleichermaßen wenig hilfreich. Diesmal sind wirklich alle betroffen. Weltweit. Alle, ganz gleich wie dick die Brieftasche, wie mächtig die Macht, wie farbig die Haut.

Allein heißt nicht einsam

Warum also die erzwungene Isolation nicht sogar als Geschenk betrachten? „Nosce te ipsum“, wie der Lateiner sagt, „erkenne dich selbst“. Mal sehen, was da bei mir alles rauskommt. Ich gebe weniger Geld aus und lese wieder mehr Buch. Allerdings überlege ich langsam, meine Selbstisolierung bald auch auf Social-Media-Kanäle auszuweiten. Es ist höchste Zeit, so manch hysterischen Angst- und Panikmachern mit ihren oft reichlich naiven Lebensweisheiten, irren Verschwörungstheorien und wirren Schuldzuweisungen den geklickten Laufpass zu geben.

Ich lebe allein, aber nicht einsam. In Zentrumsnähe und im weiten Umkreis in ausnahmslos russischer Nachbarschaft. Dieser Tage herrscht eine herrliche Ruhe. Eine ungewohnte Stille, die mich kaum einschlafen lässt.

Plötzlich grüßt man sich im Flur. Je nach Laune mit demütig-leidendem, lauthals-protestierendem oder mitfühlend-lächelndem Temperament. Die Stimmung einer temporären Notgemeinschaft zeigt sich in kurz gehaltenen Treppenhausgesprächen: Wir alle sitzen in einem Rettungsboot.

Die zahlreichen Hunde in meinem heimischen Gebäudekomplex sind jetzt beliebter denn je: Sie sind zu begehrten Tauschsubjekten geworden. Schließlich dürfen sie mehrmals am Tag vor die Tür.  

Auch in der Krise rundum versorgt

Nachbarin Olga aus dem Gebiet Nowosibirsk spricht gut Deutsch. Was für ein Glück! Mindestens einmal in der Woche, auf jeden Fall immer sonntags, gibt es bei ihr am langen Küchentisch leckeres Frühstück für uns beide mit selbstgemachten Bliny oder Syrniki. Dass Olga Russin ist, heißt beruhigenderweise bei aller Vorsicht ein bisschen mehr Gleichmut, weniger Panik.

In der Bäckerei auf der anderen Straßenseite duftet es allmorgendlich wie nach echt deutschem Graubrot mit Knusperkruste und so schmeckt es dann auch tatsächlich. Dort gibt es auch einige hausgemachte Fertiggerichte – Buletten, Pelmeni, Pirogi, Vinaigrette- und Olivier-Salat. Vom Lebensmittelladen schräg gegenüber kommt das, was ich sonst noch so brauche, vom Apfel bis zu Zigaretten. Klopapier und Buchweizen waren hier übrigens noch nie aus. Versorgung im Aktionsradius von kaum 50 Metern von meiner Haustür, nur ein paar erfrischende Lockerungsschritte nah. Die angeschlossene Änderungsschneiderei macht längst clever auf „systemrelevant“ und hat total auf das Nähen von Gesichtsmasken umgestellt.

Gefühlt nicht eingesperrt, sondern sicherer

Nein, mir fällt die Decke noch nicht auf den Kopf. Aber in Schlabberhose, T-Shirt und Schlappen komme ich nie in die Gänge im häuslichen Büro, da locken Sofa und Kühlschrank doch zu heftig. Zur nötigen Selbstdisziplin gehören einfach das zeitlich geregelte morgendliche Aufstehen und ein angemessenes Ausgehoutfit.

Ich fühle mich nicht eingesperrt, ich fühle mich eher sicherer. Und besser. Ich tue etwas Gutes. Für mich und andere. Dabei profitiere ich auch von der elektronischen Fernbetreuung meiner deutschen Botschaft und der informativen Standleitung zur Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer.

Wir sind doch trotz allem eigentlich Privilegierte. Haben immer noch ein Dach über dem Kopf, ein wärmendes Bett, Strom, kaltes und warmes Wasser, TV, Internet mit 24-Stunden Netflix- und VPN-Verbindung, Bier und Wein, Brot und Butter – bei Bedarf sogar angeliefert. Abermillionen auf der Welt haben so gut wie nichts von alledem – und zu allem Unglück die gesundheitliche Gefahr durch das vermaledeite Covid-19 jetzt auch noch dazu.

Kollektive Menschlichkeit auf dem Prüfstand

Die Frage aller Fragen: wie lange noch und was danach? Kein Politiker, kein Wissenschaftler, einfach keiner all der für uns verantwortlichen Schlauberger und Besserwisser weiß ja eigentlich nichts Genaues. Da hilft nur Vertrauen, nur Geduld, nur Mut. Da einigermaßen heil herauszukommen, das wird ein kollektiver Kraftakt, ein arger Stresstest. An einem Strang ziehen ist das Gebot der Stunde.

Vielen von uns hilft im Moment ihr rückhaltloses Gottver­trauen und mir genauso unser guter Goethe: „Eines Tages klopfte die Angst an die Tür. Der Mut stand auf und öffnete. Aber da war keiner.“ Lasst uns einfach noch eine Weile tief durchatmen und gesund bleiben, äußerlich und innerlich. Klar brauchen wir danach wieder mehr Wachstum, aber eben nicht wie gehabt nur im wirtschaftlichen Sinne. Ein gewinnbringender Weg in die Zukunft sieht entscheidend anders aus. Abbiegen in Richtung Ein-, Rück- und Weitsicht für mehr Zuversicht. Unsere kollektive Menschlichkeit steht auf dem Prüfstand. Globales Wachstum, ja klar, aber mit mehr sozialem Gewissen, mehr Vernunft, mehr Empathie. Wo ich kann, da mach‘ ich mit.

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