Herr Tiffert, Sie haben eine dreiwöchige Rundreise durch Russland mit dem Rollstuhl hinter sich. Ein kurzes Fazit?
Das war ein Meilenstein in meinem Leben. Wir hatten tolle Erlebnisse hier. Mir fällt gar nichts ein, was schlecht gelaufen wäre. Und wenn es wirklich mal ein Problem gab, dann hat immer jemand geholfen. In Deutschland haben sie das Equipment, in Russland haben sie überall freundliche Leute.
Wie sind Sie überhaupt auf die Idee zu diesem Unternehmen gekommen?
Mein Freund Torsten Ites ist Marineattaché an der Deutschen Botschaft in Moskau. Wir haben zweieinhalb Jahre gemeinsam auf der Fregatte Brandenburg gedient – ich als Antriebsoffizier, er als Kommandant. Nach meinem Unfall hat er mich im Krankenhaus besucht, so ist eine Freundschaft entstanden. Später war er bei mir zu Hause in Rostock, da habe ich angefangen, mit dem Gedanken eines Gegenbesuchs in Moskau zu spielen. Auf Russland war schon immer neugierig. Das kannte ich noch aus dem Schulunterricht in der DDR, habe ja auch Russisch gelernt. Da wollte ich nun gern selbst herausfinden: Wie ist es dort eigentlich?
Am Ende haben Sie nicht nur Moskau mit eigenen Augen gesehen, sondern elf Städte im europäischen Teil Russlands, von Wolgograd bis Sotschi und von Astrachan bis Elista, waren insgesamt 4.500 Kilometer unterwegs. Allein die Reisevorbereitungen müssen sehr aufwändig gewesen sein.
Es fing damit an, dass uns alle, die der Meinung waren, sich äußern zu dürfen, Freunde mit Freunden in Russland, abgeraten haben. Der allgemeine Tenor, der uns in Deutschland entgegengeschlagen ist, war: Ihr seid wahnsinnig! Abgesehen davon, dass Russland nicht behindertengerecht sei, hat man uns von den schlimmen Straßen erzählt, die sich dann vielfach als top erwiesen haben. Man hat uns gewarnt, wir würden von der Polizei ausgenommen. Durch Deutschland geistern in der Beziehung die reinsten Horrorgeschichten, das kann man nicht anders sagen.
Auf der ITB in Berlin bin ich an ein Reisebüro für Russlandreisen geraten. Dort hat man mich einfach ausgelacht. Mit dem Rollstuhl nach Russland – das ginge gar nicht. „Fahren Sie lieber nach Mallorca“, hieß es dort.
Schwierigkeiten hatten wir auch, einen Leihwagen zu finden. Wir haben Dutzende Telefonate geführt, aber einen behindertengerechten Kleinbus wollte man uns nur gegen Zahlung von 40.000 Euro Kaution geben. Letztlich sind wir – also ich und meine Begleiter, auf die ich angewiesen bin – mit meinem alten Citroen Jumper und einem weiteren Kleinbus gefahren.
Die guten Ratschläge, sich lieber ein anderes Reiseziel zu suchen, haben Sie also ignoriert.
Ach, wissen Sie, ich war 18 Jahre bei der Marine, habe die halbe Welt gesehen. Einer meiner Begleiter ist auf Treckingtouren durch Nepal gewandert, ein anderer quer durch Indien und durch Kanada gefahren. Da lässt man sich von solchen Warnungen nicht so leicht verunsichern. Wenn man will, dass alles perfekt ist, dann muss man nach Amerika fahren. Unsere Herangehensweise war: Es ist vermutlich nicht alles perfekt, aber das schreckt uns nicht, wir stellen uns darauf ein. Das hieß unter anderem, dass uns gleichzeitig zwei Reisebüros in St. Petersburg und Hamburg bei den Planungen unterstützt haben.
Sie haben von „tollen Erlebnissen“ in Russland gesprochen. Geben Sie uns ein paar Beispiele?
Wir waren in Wolgograd. Das ist eine Stadt, in der Deutsche Unbeschreibliches angerichtet haben. Wenn eine Nation das Recht hat, schlecht über uns zu reden, dann sind es die Menschen dort. Und doch sind sie uns überall mit Freundlichkeit, Offenheit, mit Respekt begegnet, das hat mich beeindruckt. In Wolgograd haben wir die Bekanntschaft eines alten Mannes gemacht, der sich sehr um unsere Kamera gesorgt hat, damit ihr nichts passiert. Man hört ja immer: In Russland wird viel geklaut. Aber dieser Mann war im Gegenteil darum bemüht, unser Hab und Gut zu beschützen.
Oder: In Moskau waren wir bei einem Confed-Cup-Spiel. Chile gegen Kamerun. Die Karten wurden uns von einem Tag auf den anderen besorgt. Das ist Russland! Wenn man etwas will, dann geht das auch.
Im Kaukasus hat uns jemand gezeigt, wo im Krieg die Frontlinie verlief und dass es dort eine Wasserstelle gab, wo sich die beiden Seiten beim Wasserholen abgewechselt haben. Jedes Jahr treffen sich dort Kriegsveteranen, um Geschichten auszutauschen.
Im Wintersportort Krasnaja Poljana, wo 2014 die Paralympischen Spiele stattgefunden haben, sind wir genau fünf Jahre nach meinem Sportunfall gewesen. Ich fand das ein sehr lohnendes Ziel, um dieses Datum zu würdigen.
Was meinen Sie mit „würdigen“? Das dürfte doch ein Tag sein, an den Sie jeden Gedanken am liebsten verdrängen würden.
Ich musste mich schon beim ersten Jahrestag entscheiden: Entweder du drückst das weg, betrachtest das als Trauertag. Oder du feierst. Und ich habe alle eingeladen, die mir geholfen haben, im Rollstuhl klarzukommen. Wie kann man denen danken? Die Frage habe ich mir oft gestellt. Ich denke, das Beste ist, die Chance zu nutzen, die einem gegeben wurde, und einfach zu leben, so normal wie möglich.
Im Krankenhaus haben mir damals viele gesagt: Du gehst ins Heim. Ich saß beim Psychologen. Er: „Wie sieht es bei Ihnen mit Selbstmordgedanken aus?“ – Ich: „Für mich kein Thema.“ – Er: „Und wenn Sie nun ins Heim kommen?“ – Ich: „Das wäre ein Grund.“
Ich will mich zeigen, ich zwinge die Leute, sich damit auseinanderzusetzen, dass es auch Menschen gibt, die im Rolli sitzen. Und dass die verrückte Sachen machen können.
Meinen Unfall sehe ich nicht als Desaster. Für mich hat damit ein neuer Lebensabschnitt begonnen. Ich kann heute Sachen machen, die früher nicht möglich gewesen wären. Die drei Wochen Russland gehören dazu.
Wie steht es nach Ihrem Eindruck um die hiesige Barrierefreiheit?
Ich bin mit dem Rollstuhl fast überall hingekommen, wo ich hinwollte. Viele Bürgersteige sind abgesenkt oder so kaputt, dass sie kein Hindernis darstellen. Oft ist die Auffahrt aber sehr steil und offenbar nicht für Rollis gedacht, sondern für Kinderwagen und Fahrräder. Sotschi ist auf jeden Fall sehr behindertengerecht. Die Hotels, in denen wir übernachtet haben, waren es mit einigen Abstrichen auch, allerdings waren das gute Hotels.
Haben Sie unterwegs andere Rollstuhlfahrer gesehen?
Während der gesamten Reise nur zwei. Und auch von denen hatte keiner einen E-Rollstuhl. So etwas kann sich hier scheinbar keiner leisten.
Geben Sie Ihre Erfahrungen jetzt in irgendeiner Weise weiter?
Wir machen einen Dokumentarfilm darüber. Und es wird Vorträge geben. Das Motto „Find Your Road“, unter dem die Reise stand, soll auf jeden Fall weiterleben. Das ist auch der Titel des Blogs, den wir geführt haben: findyourroadblog.wordpress.com. Ich gehe davon aus, dass das nicht unsere letzte Reise nach Russland war.
Das Interview führte Tino Künzel.