Am Ende der zweistündigen Vorstellung wird eine riesige Matrjoschka-Puppe in die Zirkusarena geschoben. Auf ihr läuft, wie auf einem Bildschirm, ein kurzer Film über Russland. Wie schön es ist! Goldene Kirchkuppeln wechseln sich ab mit dem Sonnenaufgang über Moskau, mit den Statuen des Brunnens der Völkerfreundschaft im Park WDNCh, Heuhaufen auf den Feldern, endlosen Wäldern und Flüssen. Und plötzlich beginnt die Puppe zu wachsen und sich zu öffnen. Zum Vorschein kommt ein Mädchen im goldenen Anzug. Zur Musik aus dem berühmten sowjetischen Kinderfilm „Gast aus der Zukunft“ führt die junge Äquilibristin eine rührende Nummer mit Tauben auf. „Die russische Zirkushoffnung Kamila Stepanowa“, so wird sie später vorgestellt.
Von Gauklern bis zu Clowns
Der russische Zirkus hat eine nicht weniger schillernde Vergangenheit. Seine Ursprünge reichen bis ins 11. Jahrhundert zurück, als Gaukler begannen, die Menschen auf den Plätzen zum Lachen zu bringen. Den ersten stationären Zirkus in Russland gab es 1877 in St. Petersburg. Er wurde von dem Italiener Gaetano Cinizelli gegründet. Dieser Zirkus trägt heute seinen Namen.
Drei Jahre später, im Jahr 1880, gab es den ersten stationären Zirkus in Moskau am Zwetnoj-Boulevard. Gegründet wurde er von Albert Salamonsky, einem Reitakrobaten aus einer Zirkusfamilie. Er hatte bereits Erfahrung als Zirkusunternehmer: 1873 mietete er eine Markthalle in Berlin und baute sie zu einem Zirkus für 5000 Zuschauer um. Bis 1919 trug der Zirkus in Moskau den Namen seines Gründers. Der Salamonsky-Zirkus war der erste, der Kinder- und Weihnachtsvorstellungen aufführte – bis dahin galt der Zirkus als Unterhaltung für Erwachsene. 1919 wurde der Zirkus vom Staat übernommen und war damit der erste sowjetische Zirkus überhaupt.
Die Sowjets sahen in den Zirkusbesuchern ein wichtiges Publikum für sich selbst, die Zirkusmanege wurde zum Propagandamittel. So schrieb beispielsweise der Dichter Wladimir Majakowski politische Texte für den Clown Witali Lasarenko. Ein besonderes Merkmal des sowjetischen Zirkusrepertoires war die Betonung des Könnens und des Charismas der Zirkuskünstler. Viele Sowjetbürger kannten sie und freuten sich darauf, sie zu sehen. Besonders beliebt waren die Clowns Juri Nikulin, Oleg Popow und Juri Kuklatschow sowie die Illusionistenbrüder Kio. 1983 wurde Juri Nikulin Leiter des Moskauer Zirkus am Zwetnoj-Boulevard.
Zirkus als Markenzeichen
Der sowjetische Zirkus war auch für seine Tierdarbietungen berühmt. Kostüme und Kulissen spielten jedoch eine untergeordnete Rolle. Alle Zirkusse – sowohl stationäre (in den 1980er Jahren waren es etwa 70) als auch Wanderzirkusse und Tierschauen – waren in einem gemeinsamen System, dem Sojusgoszirk, zusammengeschlossen. Die Künstler traten in verschiedenen Zirkussen des Landes auf und zogen ständig von einer Stadt zur anderen, von einer Republik zur anderen. Sie lebten in Zirkusherbergen. Es gab auch Auslandstourneen. Der Moskauer Zirkus war ein Markenzeichen. 1971 wurde ein weiterer Zirkus in der Hauptstadt – im Südwesten Moskaus – eröffnet.
Feodossi Bardian, langjähriger Leiter von Sojusgoszirk, erinnerte sich später gern daran, wie in Rezensionen über Tourneen des Moskauer Zirkus in den Vereinigten Staaten geschrieben wurde: „Wenn das Bolschoi-Theater unsere Herzen gewonnen hat, hat der Moskauer Zirkus sie mitgenommen.“ Oder: „Jeder, der eine Vorstellung des Moskauer Zirkus verpasst, sollte untersucht werden, um festzustellen, ob er oder sie noch normal ist“.
Die 1990er waren für alle Zirkusse des Landes harte Jahre. Nicht alle von ihnen haben überlebt. Heute gibt es im Rosgoszirk-System (das den Sojusgoszirk abgelöst hat) 36 stationäre Zirkusse und 5 Wanderzirkuse in ganz Russland. Einige weitere Zirkusse fallen unter die Zuständigkeit bestimmter Regionen.
Einzigartiger Zirkus
Der Zirkus am Zwetnoj-Boulevard wurde 1990 aus der staatlichen Verwaltung ausgegliedert und in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Heute ist er der einzige private stationäre Zirkus des Landes. Im Jahr 1996 wurde der Zirkus nach Juri Nikulin benannt. Als 1997 der beliebte Zirkuskünstler und Schauspieler verstarb, war dies für Millionen Menschen ein Schock. Heute erklingt Juri Nikulins Stimme zu Beginn jeder Vorstellung.
„Es wäre eine Sünde für uns, sich zu beschweren. Wir werden geliebt, die Leute kommen zu uns, sie wissen, dass wir nichts Schlechtes zeigen werden“, sagte Juri Nikulin, Leiter der Abteilung für Werbung und Sonderprojekte des Zirkus, der MDZ. Er ist der Enkel von Juri Nikulin. „Letztes Jahr lag die Auslastung unseres Saales – wir haben 2075 Plätze – bei 96 Prozent. Und sie kann 100 Prozent nicht erreichen. Einen Teil der Eintrittskarten verkaufen wir nämlich nicht, sondern geben sie an soziale Einrichtungen und Massenmedien, VIP-Gäste ab. Der Zirkus erhält keine Unterstützung aus dem Staatshaushalt. Aber er hat seit den Zeiten des ehemaligen Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow eine günstige Miete: 1 Rubel pro Quadratmeter.“
Zirkus im 21. Jahrhundert
Laut Juri Nikulin verändert sich der Zirkus jeden Tag. War die Zirkuskunst früher eher wie Sport, so hat sie sich in den letzten 15 Jahren immer mehr einer Theateraufführung angenähert. Jetzt erzählt jede Nummer ihre eigene Geschichte. Und daran arbeiten nicht nur die Zirkuskünstler selbst, sondern auch der Regisseur, der Trainer, die Kostüm- und Maskenbildner, die Licht- und Tonmeister. An vielen Nummern ist auch das Ballett beteiligt. Das heißt, es führen zum Beispiel Akrobaten Kunststücke unter der Zirkuskuppel vor, während andere gleichzeitig in der Manege tanzen. Daraus ergibt sich eine bunte Show.
Der Nikulin-Zirkus nutzt auch moderne Technologien, sagt Juri Nikulin. Aber man rediziert sie auf ein Minimum. Der Schwerpunkt liegt auf der klassischen Zirkuskunst. Und Tiere sind ein fester Bestandteil davon.
Bären, Schafe und Pferde kommen in „Matrjoschka“ auf die Bühne. Die Schafe tanzen zu „Kalinka-malinka“. Die Pferde und Zirkuskünstler reiten zu einem beliebten Lied der Musikgruppe „Ljube“ über Pferde und die Liebe zu Russland. Im Finale springt ein Reiter auf ein galoppierendes Pferd und entrollt eine russische Flagge. Das Publikum jauchzt vor Überraschung.
Der Clown Juri Nikulin pflegte zu sagen: „Zirkus ist eine Sache, die erfreuen, überraschen und ein wenig erschrecken soll.“ Sein Sohn Maxim Nikulin, der heute den Zirkus am Zwetnoj-Boulevard leitet, hält sich an diese Maxime und führt die Traditionen des Zirkus seines Vaters fort.
Zwetnoj-Boulevard 13
Metrostationen: Zwetnoj-Boulevard, Trubnaja
Matrjoschka: Fr, Sa, So
Tickets: 1500-6000 Rubel
Der Große Moskauer Zirkus
In den 1950er Jahren reichte ein Zirkus für 2000 Zuschauer in Moskau nicht mehr aus, und die Stadt beschloss, einen weiteren Zirkus zu bauen. Man entschied sich für einen Standort auf den Sperlingsbergen im Südwesten Moskaus. Der Bau zog sich hin. Die Eröffnung des Großen Moskauer Zirkus fand erst im April 1971 statt. Zu dieser Zeit war er der größte in Europa – die Halle bietet Platz für 3310 Zuschauer. Der Zirkus verfügt über mehrere wechselnde Arenen: für Eis-, Illusions-, Wasser- und Reitershows. Das macht den Zirkus am Prospekt Wernadskogo einzigartig. Seit März läuft dort die Show „Legende“, die auf den Mythen des antiken Griechenlands basiert.
Prospekt Wernadskogo 7
Metrostation: Universität
Legende: Mi, Sa, So
Tickets: 1500-5000 Rubel
Olga Silantjewa