LGBT in Russland: Angriffe auf eine unsichtbare Minderheit

In Moskau lädt die Organisation „Resurs LGBTKIA“ jedes Jahr zu einer Konferenz ein, bei der es um Zusammenhalt und Erziehung in der Familie geht. Den Veranstaltungsort kennen normalerweise nur die Teilnehmer. Dieses Mal erfuhren jedoch auch LGBT-Gegner davon. Fünf Teilnehmerinnen wurden angegriffen und der letzte Konferenztag verlegt. Zwei Frauen berichten von dem Vorfall Anfang November 2017.

Aktivistin Nadja Arontschik und ihr bester Freund Dmitrij Swjetlyj setzen sich für LGBT-Rechte ein. /Foto: Privat.

Zoja Matisowa, Mitglied im Rat des Russischen LGBT-Netzwerks: „Nach der Veranstaltung hatten wir uns erst 300 Meter vom Gelände entfernt, als uns vier schwarz gekleidete Männer mit vermummten Gesichtern einholten. Sie fragten, ob wir von der Konferenz kommen. Ohne die Antwort abzuwarten, besprühten sie uns mit säurehaltiger Flüssigkeit. Reflexartig schloss ich meine Augen und spürte, wie wir geschubst wurden. Sie beschimpften uns. Als ich meine Augen kurz öffnete, hielt mir einer der hochgewachsenen Angreifer die Sprühflasche direkt ins Gesicht. Es war ein unbeschreiblicher Schmerz, als meine Augen binnen Sekunden austrockneten. Ich fing an zu schreien. Die Angreifer ließen von uns ab und rannten davon.

Leider waren weitere drei Konfernzteilnehmerinnen nur einige Meter vor uns entfernt und wurden ebenfalls von den Tätern besprüht. Sie konnten schnell fliehen. Als die Männer weg waren, spülte ich meine Augen mit Wasser aus, bis Nadja rief, dass sie zurückkommen. Sie packte mich an der Hand und ich rannte fast blind, mit geschlossenen Augen zum Konferenzgebäude.“

Nadja Arontschik, LGBT-Aktivistin: „Bevor wir das Gebäude erreichten, sprang einer der Männer Zoja mit dem Ellenbogen in den Rücken. Sie stolperte und ich fiel über sie. Wir schafften es bis zur Tür, wo wir schrien und klopften, bis der Vermieter öffnete. Er rief auf Zojas Anweisung einen Krankenwagen und die Polizei. Wir wuschen uns die Flüssigkeit aus dem Gesicht. Als die Polizisten kamen, fragten sie mit einem ironischen Unterton, ob der Angriff reiner Zufall war und unterstellten uns, dass wir provoziert hätten. Wir antworteten, dass es ein Angriff aus Hass war. Sie wollten auch wissen, welches Verhältnis wir zueinander haben, obwohl das überhaupt nichts zur Sache tat. Sie hatten offensichtlich kein Interesse, uns zu helfen.

Der Notarzt meinte, dass es doch gar keine Angriffe auf LGBT-Anhänger in Russland gebe. Den Menschen in diesem Land wird vorgespielt, dass keine Verbrechen aus Hass geschehen, und sie glauben es, selbst wenn so ein Vorfall direkt vor ihren Augen passiert.

Zoja hatte sich auch das Knie aufgeschlagen und eine Rippe gebrochen. Das Augenlicht hat sie wieder, wobei sich ihr Sehvermögen verschlechterte. Meine Verletzungen waren nicht so gravierend, deshalb konnte ich mit aufs Revier fahren. Ein Polizist gab mir zu verstehen, dass wir selber Schuld an der Situation hätten. Ich ignorierte das und erstattete unter Schock Anzeige.
Nach dem Vorfall hatte ich schon Angst, es kann ja immer wieder passieren. Aber ich habe mir vorgenommen, mich von solchen Menschen nicht erniedrigen zu lassen. Der dritte Tag der Konferenz fand zwei Wochen später statt. Es kamen mehr als hundert Menschen. Wir lassen uns nicht unterkriegen und machen weiter, bis sich die Situation in Russland bessert.“

Aufgeschrieben von Sandra Laudenschläger.

Brennpunkt Tschetschenien

Im April veröffentlichte Jelena Milaschina, Investigativ-Reporterin der unabhängigen Zeitung „Nowaja Gazeta“ einen Bericht darüber, dass in der russischen Teilrepublik Tschetschenien viele hundert Männer wegen ihrer Homosexualität oder des bloßen Verdachts, sie seien homosexuell, misshandelt und einige getötet worden seien.
Zum selben Zeitpunkt erreichten tausende Nachrichten aus Tschetschenien das Russische LGBT-Zentrum mit der dringenden Bitte um Hilfe. Die Organisation leitete sofort Hilfsmaßnahmen ein. Sie richtete eine Notruf-Hotline ein und schickte Menschenrechtsaktivisten in die betroffenen Regionen. Mit deren Hilfe konnte das LGBT-Zentrum in den vergangenen Monaten 106 Menschen aus Tschetschenien herausholen. 77 von ihnen wurden ins Ausland gebracht, weil sie sich in Russland nicht mehr sicher fühlen. Aus Sicht ihrer Familien seien sie oft eine Schande und würden deshalb von Verwandten im ganzen Land verfolgt, sagt eine Sprecherin des LGBT-Zentrums. Die Länder und der Ablauf der Rettung werden geheim gehalten. „Der Prozess ist noch im Gange, deshalb haben wir beschlossen, diese Informationen nicht herauszugeben. Wir wollen den Menschen so viel Sicherheit wie möglich bieten“, so die Sprecherin.
Tschetschenien ist eine Ausnahme. Dennoch passieren auch in anderen Regionen Russlands immer wieder Verbrechen aus Hass gegenüber LGBT-Anhängern, berichtet die Organisation. Und diese Rate steige kontinuierlich. „Es reichen tausend Menschen, die aggressiv gegen uns vorgehen, wenn der Rest des Landes die Augen verschließt“, erklärt die Sprecherin des Zentrums. Russland mache zwar Rückschritte, aber die stetig wachsende Gemeinde gibt nicht auf. „Die Menschen müssen einsehen, dass wir als unsichtbare Minderheit gar nicht so wenige sind und dass Verbrechen aus Hass realer sind als sie sich einreden.“ sl

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