Karussell Sarja: Einmal Kindheit und zurück

Das Karussell Sarja ist eine handbetriebene Drehbühne und gleichzeitig ein Kunstwerk. Regelmäßig finden hier außergewöhnliche Musikveranstaltungen statt. Um das skurrile Objekt hat sich längst eine Gemeinschaft von Begeisterten geschart, die weit über Moskau hinaus reicht.

Drehmoment: Das Karussell Sarja fällt im Moskauer Nachtleben aus dem Rahmen. (Foto: Karussell Sarja)

Samstagabend in Moskau. Während sich im Zentrum die Menschen in Bars und Clubs drängen, füllt sich im Nordosten der Stadt auf dem Gelände einer stillgelegten Färberei langsam der verschneite Hinterhof. Was machen die etwa 100 Leute hier draußen bei minus drei Grad, wenn sie jetzt eigentlich auch im Warmen sitzen könnten?

Der Grund sieht auf den ersten Blick wie ein überdimensionales Blechspielzeug aus. Das Karussell ist Tanzfläche und Bühne in einem. Es wurde extra dafür gebaut, regelmäßig finden dort unter freiem Himmel Musikveranstaltungen statt. Damit es sich zu drehen beginnt, muss mindestens eine Person ständig die große Kurbel bedienen, besser geht es zu zweit. In der Mitte ist Platz für einen oder mehrere Musiker. Darum herum kann das Publikum tanzen, Schwindel­freiheit vorausgesetzt.

An diesem Abend legt ein DJ auf. Zuerst ist er allein auf der runden Bühne, die sich gleichmäßig dreht. Dann, wie auf ein Zeichen, springen die ersten aus dem Publikum auf das Fahrgeschäft auf. Statt bunter Pferdchen wiegen sich jetzt Menschen im Takt der sphärischen Musik, die Nebelmaschine hüllt sie in blauen Rauch. 

Der Kopf hinter dem Projekt

„Das ist einzigartig. So etwas habe ich sonst nirgendwo gesehen“, sagt Wowa, der zum Veranstalterteam gehört. Um die 15 Leute arbeiten freiwillig an dem Projekt mit. Fragt man sie, was für sie den Reiz des Karussells ausmacht, fällt immer wieder der Name Sascha. „Er ist ein Erfindergeist, ein Poet, ein verrückter Intellektueller“, beschreibt sein Freund Ruslan den Kopf hinter dem Projekt. Alexander Dowydenkow, den hier alle Sascha nennen, ist gar nicht so leicht auf dem Gelände zu erwischen. Ständig wuselt er geschäftig zwischen den Leuten herum, weniger im Stress als in freudiger Aufregung.

Sarja habe für ihn viel mit einer schönen Kindheitserinnerung zu tun, wie er sagt. Seine Eltern hätten ihn früher oft in das gleichnamige Kino mitgenommen, das sich in einem kleinen Freizeitpark in seiner Heimatstadt Lipezk befand. Der Ort an sich sei dabei nicht so wichtig gewesen, prägend war für ihn eher das Erlebnis selbst und das Bild von Eltern, Familie, Sorglosigkeit, das er damit verbindet. „Jetzt bin ich 32 und finde das Leben hart. Steuern, Finanzen – ständig dreht sich alles ums Geld.“ Umso wichtiger sei ihm das Zusammensein mit Leuten, die er liebt. „Das ist genau der Punkt: süße Kindheitserinnerungen und Kunst zu vereinen, um Schönheit und Gemeinschaft zu schaffen“, beschreibt er das Projekt.

Eine „postapokalyptische“ Attraktion

Der Bruch zwischen unbeschwerter Kindheit und der Erwachsenenwelt zeigt sich auch im Aussehen des Karussells selbst, für das Ruslan den Begriff „postapokalyptisch“ wählt. „Es ist ein Karussell, das unschuldigste Vergnügen, das jedes Kind anzieht“, erklärt er. „Gleichzeitig ist es dunkel, dreckig, die Planen auf dem Dach sind zerfetzt. Es ist ein Kindheitstraum, kombiniert mit der harten Realität und dem Versuch, die Welt zu verstehen.“

Ein wenig kindlicher Idealismus schwingt auch darin mit, wie das Projekt organisiert und finanziert ist. Die Partys kosten keinen Eintritt, Besucher werden dafür gebeten, einen beliebigen Betrag zu spenden. Den ganzen Abend schenken Helfer unter einer Plane kostenlos Glühwein aus. Die Gäste können sich an zwei Fässern wärmen, in denen Kohlen glühen. Neben dem Karussell haben Freunde von Sascha eine kleine Rodelbahn angelegt, Rutschteller sind auch vorhanden.

Von Dowydenkow stammt der Grundgedanke des Projekts, aber auch das technische Know-how. Und das nicht ganz von ungefähr. Sein Großvater soll zwei Karussells besessen haben, er selbst hat als Requisiteur beim Theater gearbeitet.

Vom Festival-Nomaden zum festen Standort

Das Karussell im Moskauer Winter (Foto: Anna Finkenzeller)

Ursprünglich ist das Projekt als Installation für das „Insomnia“-Festival in Russland entstanden, wo es 2017 zum ersten Mal stand. Zwei Jahre später bekam das Karussell einen Platz auf dem vielleicht wichtigsten Standort, den es für Projekte dieser Art gibt, das weltberühmte „Burning Man“-Festival in der Wüste von Nevada. Dazu hatte das Team extra eine Kopie der Attraktion angefertigt, die dann mit Unterstützung des Veranstalters per Schiff in die USA gebracht wurde. Jetzt hat das Karussell seit vergangenem Sommer einen festen Standort auf dem Gelände des Kreativzentrums „Gamma“. Es sei wichtig gewesen, dass das Projekt ein Eigenleben entwickle und nicht nur kurzzeitig auf Festivals gastiere, sagt Sascha.

Der künstlerische Anspruch der Bühne soll sich auch in der Musik fortsetzen, die auf ihr gespielt wird. Es treten die verschiedensten Künstler auf, oft auch mit Livemusik. An diesem Abend legt Saschas Bruder Jura auf. „Er gräbt regelrecht nach Musik, die nicht dem Massengeschmack entspricht, aber groovy ist“, beschreibt Ruslan Juras Arbeit.

Von der Atmosphäre am Karussell angesprochen fühlen sich ganz unterschiedliche Menschen. Viele sind Mitte Dreißig, wie die Veranstalter selbst, andere auch deutlich älter und jünger. In einem Moskauer Club würde man sie in dieser Konstellation bestimmt nicht antreffen. Generell sei jeder hier willkommen, sagt Ruslan. „Wir wollen freundliche, angenehme Leute ansprechen, die das Konzept verstehen und einfach Spaß daran haben“, resümiert er.

Sarja heißt so viel wie Sonnenaufgang. So lange geht die Veranstaltung heute nicht, nach Mitternacht kommt das Karussell zum Stehen. Und mit ihm die Party, als sich der Innenhof langsam leert und die Gäste in das Erwachsenenleben zurückkehren, das Sascha sie hier ein wenig vergessen lassen will.

Anna Finkenzeller

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