
Die Evangelische Kirche in Deutschland schickt jedes Jahr um die 10 bis 15 Pfarrer in alle Welt, um Auslandsstellen neu zu besetzen. Im Spätsommer 2022 bereitete sich wieder eine Gruppe von Auserwählten auf ihre Mission und den Alltag in Städten wie Kairo, Lima oder Teheran vor. Dazu gehörte auch ein Empfang im Auswärtigen Amt. Ein früherer Botschafter scherzte im Gespräch mit ihnen, nach Moskau werde diesmal ja nun bestimmt keiner gehen.
Damit konnte er nach Lage der Dinge gar nicht falsch liegen und hat sich trotzdem geirrt. Moskau ist, gelinde gesagt, nicht gerade die populärste Auslandsstelle im Netz der EKD. In den letzten zwei Jahren wurde die hiesige Emmausgemeinde nur noch provisorisch betreut. Doch einen einzigen Bewerber gab es dann Ende 2021 doch: Pfarrer Fridtjof Amling wollte die Gemeinde ein zweites Mal übernehmen. Von 2000 bis 2009 hatte er schon einmal in Moskau gewirkt, war dann im niedersächsischen Dinklage tätig gewesen. Den Wunsch, erneut nach Russland aufzubrechen, ausgerechnet in diesen Zeiten, haben nicht alle verstanden. Einige hätten sogar den Kontakt abgebrochen, sagt Amling. Aber er sieht in Moskau eine Aufgabe für sich und seine Kirche, auch und gerade in diesen Zeiten.
Ein Jahr in der Schwebe
Sein Amt antreten wollte der gebürtige Bonner schon im September 2022. Doch es hat ein Jahr gedauert, bis nach dem Zuschlag der EKD auch die russische Seite ihren Segen erteilte, als damit schon kaum noch zu rechnen war. Wer da geschaltet und gewaltet hat, weiß Amling bis heute nicht. Nach quälenden Monaten im Schwebezustand ist er mit Ehefrau Galina am 20. September wieder in Moskau gelandet. Drei Wochen später war auch der Umzugswagen mit dem gesamten Hab und Gut da.
Zuzug ist im „Deutschen Dorf“ am südwestlichen Stadtrand selten geworden. Früher waren die Wohnungen in diesem deutschen Wohngebiet so begehrt, dass es eine Warteliste gab. Heute stehen zwei Drittel bis drei Viertel leer. Die Amlings sind wieder in die 180 Quadratmeter große Gemeindewohnung im achten Stock des „Zickzackhauses“ eingezogen, visà-vis von Schule und Kindergarten. Unmittelbare Nachbarn haben sie nicht, über ihnen wohnt jemand, immerhin.
Jetzt zum Advent hängen Weihnachtssterne in den Wohnzimmerfenstern, eine Weihnachtspyramide schmückt die Sitzecke. Auf dem langen Tisch, wo am Heiligabend ein Weihnachtsessen veranstaltet wird, stehen an einem Dienstagabend Mitte Dezember Stollen und Kaffee – und zwei handgefertigte Figurengruppen mit Josef und Maria sowie den heiligen drei Königen. Eine Frau aus dem Seniorenkreis der Gemeinde in Dinklage hat sie den Amlings zum Abschied geschenkt.
Mit einem großen Sommerfest endete damals eine schöne und erfüllte Zeit. Aber nun sind Fridtjof und Galina Amling auch gern wieder hier in Moskau. Der 60-Jährige fühlt sich bereits „wie ein Fisch im Wasser“. Das Wasser hat, um im Bild zu bleiben, zahlreiche Untiefen, ist voller Seeungeheuer und Land nicht unbedingt in Sicht. Da kann es hilfreich sein, nicht auch noch den Kopf zwischen die Flossen zu klemmen.
Gebraucht und willkommen
Allein im Herbst hat Amling an der Bestattung von über 3000 deutschen Kriegstoten auf dem Soldatenfriedhof Rossoschka bei Wolgograd teilgenommen, hat Gottesdienste in der deutschen Botschaft abgehalten, darunter auch drei ökumenische, was noch wichtiger geworden ist, seit die Pfarrstelle der katholischen Elisabethgemeinde nicht mehr besetzt wird. Amling hat beim „Europäischen Weihnachtsmarkt“ in der deutschen Schule nebenan, wo er acht Stunden pro Woche Religion unterrichtet, Weihnachtslieder gesungen, Empfänge besucht, den neuen deutschen Botschafter Alexander Graf Lambsdorff kennengelernt und Silberhochzeit gefeiert. Er will das soziale Engagement der Gemeinde wieder ausbauen und überhaupt das Gemeindeleben aktivieren. Beim Gottesdienst würde er gern mehr Leute begrüßen. Die Grundstimmung sei jedenfalls sehr positiv.
Das gesamte Umfeld – von der Botschaft über die Schule bis zur Wohnungsverwaltung im „Deutschen Dorf“ – habe ihnen ein herzliches Willkommen bereitet. Der Einstieg sei deshalb „fantastisch“ gewesen, „wie im Märchen“. Im Wohngebiet werde jede kleine Bitte praktisch sofort bearbeitet, nach einer Reparaturanfrage hätten einmal am nächsten Tag gleich fünf Handwerker vor der Tür gestanden und die gesamte Liste innerhalb von zehn Minuten abgearbeitet. „Das sind Szenen, die glaubt man gar nicht“, sagt Amling.
Wieder von unten anfangen
Moskau hat er schon in seiner ersten Amtszeit gemocht. Seitdem ist die Stadt zumindest im Alltag noch genießbarer geworden, mit stark ausgebautem Metro-Netz, E-Bussen, schnellem Internet und Apps für alles und jeden. Kostete früher jeder Gang zur Post oder auch zum Fahrkartenschalter Nerven, hat Amling kürzlich bequem von zu Hause eine Bahnfahrt für vier Personen zum Baikalsee gebucht.
Gewiss, Ehefrau Galina vermisst das „pralle Leben“ im Wohngebiet, aber das habe man natürlich vorher gewusst. Viel ist anders geworden, was niemand für möglich gehalten hätte, gerade auch im deutsch-russischen Verhältnis. Man müsse wieder „ganz unten anfangen, eine Art Graswurzelpolitik betreiben“, meint Fridtjof Amling. Sämtliches politisches Vertrauen sei zerstört, teils auch das Vertrauen zwischen den Menschen. Jetzt komme es auf die kleinen Dinge an: der russische Chor beim Gottesdienst in der Botschaft, der merke, die Deutschen seien ja gar nicht so verkehrt und mit denen sei man gern zusammen, was natürlich auch in umgekehrter Richtung gelte, „so etwas brauchen wir“. Es werde lange dauern, wieder aufzubauen, was kaputtgegangen sei. Das Feld, das der deutsche Pfarrer in Moskau auf Sicht der kommenden Jahre bestellen will, ist weit.
Tino Künzel