Heute vor zehn Jahren: Tod einer Eishockeymannschaft

Jedes Flugzeugunglück ist ein Schicksalsschlag, der die Familien der Opfer bis an ihr Lebensende verfolgt. Doch als nach dem Absturz einer Chartermaschine heute vor zehn Jahren in Jaroslawl die Passagierliste bekannt wurde, weinten nicht nur die Angehörigen, sondern Millionen. Denn an Bord des Flugzeugs befand sich die komplette Mannschaft des populären Eishockeyklubs Lokomotive Jaroslawl. Alle Spieler, Trainer und Betreuer kamen um.

Gedenken an die Toten: „Unsere Mannschaft … für immer“, steht auf der Fassade der „Arena 2000“ in Jaroslawl. (Foto: Tino Künzel)

Der letzte Flug der Jak-42D mit dem Kennzeichen RA-42434 am 7. September 2011 dauerte nur wenige Sekunden. Das dreistrahlige Flugzeug sowjetischer Bauart hob erst 400 Meter nach dem Ende der Start- und Landebahn des Flughafens Tunoschna in Jaroslawl überhaupt vom Boden ab, war jedoch viel zu langsam, um an Höhe zu gewinnen. Stattdessen streifte es einen Antennenmast, kippte zur Seite und stürzte nach nur 120 Metern in einen Nebenfluss der Wolga. Dort zerbrach die vollbetankte Maschine und ging in Flammen auf. Von den 45 Menschen an Bord waren 43 sofort tot. Zwei weitere Passagiere kamen ins Krankenhaus. Sie hatten in der letzten Reihe gesessen und waren nicht angeschnallt gewesen, weshalb sie ins Freie geschleudert wurden. Als die Rettungskräfte sie fanden, waren sie sogar bei Bewusstsein und konnten sich selbstständig fortbewegen. Doch einer der beiden Männer starb nach fünf Tagen an seinen Brandverletzungen. Somit überlebte nur ein Techniker der Fluggesellschaft Jak-Service, die das Flugzeug betrieb.

Flugzeugunglücke waren zu jener Zeit eine traurige Konstante in Russland. Allein in den fünf Jahren von 2006 bis zum Alptraum von Jaroslawl hatten sich auf russischem Boden beziehungsweise mit Passagierfliegern russischer Fluggesellschaften zehn tödliche Unfälle ereignet, die mehr als 650 Menschenleben kosteten. Doch wie groß die Resonanz darauf auch sein mochte, etwa auf den Absturz einer Tupolew Tu-154, die sich auf dem Weg vom Schwarzmeerbadeort Anapa nach St. Petersburg befand, oder einer Boeing 737, die beim nächtlichen Landeanflug auf Perm vom Radar verschwand – nichts erschütterte Russland so wie die Katastrophe der Jakowlew Jak-42 an einem Mittwoch vor zehn Jahren. Denn sie hatte die Eishockeymannschaft von Lokomotive Jaroslawl, ihre Trainer und Betreuer zu einem Auswärtsspiel nach Minsk fliegen sollen.

Die Unglücksmaschine fünf Jahre vor dem Absturz (Foto: Sergey Ryabtsev/airliners.net)

„Barcelona des Eishockeys“

Für den Klub wäre es der Start in eine neue Saison der Kontinentalen Hockey League (KHL) gewesen, der zweitstärksten Eishockeyliga der Welt nach der NHL. Lokomotive, einer der beliebtesten und erfolgreichsten Klubs im Lande, galt als Titelanwärter. Der dreifache russische Meister hatte vier Jahre in Folge zweite und dritte Plätze belegt und dabei mit attraktivem, angriffsbetontem Spiel begeistert, weshalb die Mannschaft auch als „Barcelona des Eishockeys“ gefeiert wurde. Über den Sommer war sie noch einmal verstärkt worden, unter anderem hatte der Klub den Kanadier Brad McCrimmon als neuen Trainer unter Vertrag genommen. Zu den Neuzugängen gehörte auch der deutsche Nationalspieler Robert Dietrich, der von den Adlern Mannheim nach Jaroslawl wechselte. Der Kader von Lokomotive bestand zwar zum Großteil aus Russen, war aber auch mit einigen Ausländern gespickt, etwa mit Kapitän Karel Rachunek. Der tschechische Verteidiger hatte mit seiner Nationalmannschaft ein Jahr zuvor bei der WM in Deutschland Gold geholt.

Und nun waren die Idole der Fans tot.

Menschen trauern vor der „Arena 2000“ (Foto: Kremlin.ru)

Die Nachricht sandte Schockwellen quer durchs Land. Als sie Ufa erreichte, wo gerade das Saison-Auftaktspiel zwischen den Klubs Salawat Julajew und Atlant stattfand, wurde die Begegnung kurz vor Ende des ersten Drittels für eine Schweigeminute unter- und anschließend abgebrochen. Doch ins Mark traf das Drama vor allem Jaroslawl. 250 Kilometer nordöstlich von Moskau gelegen, ist die Stadt an der Wolga vor allem für ihre schönen Altbauten und Kirchen bekannt, die zum Weltkulturerbe zählen, und für Lokomotive. Fußball spielt nur eine Nebenrolle, der Klub Schinnik pendelt seit vielen Jahren zwischen Zweit- und Drittklassigkeit. Dafür macht Lokomotive die Jaroslawler stolz. Die heimische „Arena 2000“ mit ihren gut 9000 Plätzen ist eigentlich immer voll. Dort wurden am 10. September 2011 nun auch die Särge der toten Mannschaft aufgebahrt. Zur Trauerfeier kamen geschätzt 100.000 Menschen.

Spekulationen um Unglücksursache

In den Tagen davor war die Halle der Schauplatz eines internationalen Politforums gewesen. Die Tatsache, dass viele seiner Teilnehmer per Flugzeug angereist waren und für den 8. September auch der damalige Präsident Dmitrij Medwedew erwartet wurde, führte in der Folge zu Spekulationen, die das Forum in einen Zusammenhang zum Unfallhergang brachten, zumal dazu zunächst auch keine gesicherten Erkenntnisse vorlagen. So kursierten in der Öffentlichkeit Gerüchte, auf dem Flughafen habe Hektik geherrscht und die Besatzung der Jak unter Stress gestanden. Die Ermittler des Zwischenstaatlichen Luftfahrtkomitees (MAK) wiesen diese Version zurück: Zum fraglichen Zeitpunkt habe es keinerlei andere Flugbewegungen gegeben, von Druck auf die Piloten könne keine Rede sein.

Aber was war dann die Ursache für das Unglück? Der Flugschreiber und der Voice Recorder gaben den Experten Rätsel auf. Lange konnten sie sich nicht erklären, warum ein zwar 18 Jahre altes, aber technisch einwandfreies Flugzeug von einer erfahrenen Besatzung nicht ausreichend beschleunigt werden konnte, um problemlos zu starten. Die Start- und Landebahn des Flughafens Tunoschna ist 3000 Meter lang. Und auch wenn Flugkapitän Andrej Solomenzew darauf verzichtete, das Flugzeug an ihren Anfang zu manövrieren, so standen doch immer noch 2700 Meter zu Verfügung. Angesicht der idealen äußeren Bedingungen – trockenes Wetter, 18 Grad Außentemperatur, beste Sicht – hätten schon 1200 Meter reichen müssen.

Rätselhafte Bremskraft

Als das MAK seinen Abschlussbericht präsentierte, da klangen die Ergebnisse schier unglaublich. Demnach ging beim Start gegen 16 Uhr Ortszeit nämlich nur bis etwa 170 Kilometer pro Stunde alles gut. Ab diesem Zeitpunkt machte sich eine Bremskraft bemerkbar, die der weiteren Zunahme der Geschwindigkeit entgegenwirkte. Bei 185 km/h versuchten die Piloten erstmals, die „Nase“ der Maschine hochzureißen. Das gelang jedoch nicht. Der Bremseffekt verstärkte sich noch. Trotz vollem Schub erreichte die Jak-42 nicht mehr als 230 km/h. Und als der Start schon weit jenseits der Start- und Landesbahn doch noch glückte, da war der Steigungswinkel durch die verzweifelten Anstrengungen der Crew, den Bug anzuheben, viel zu groß und die Lage damit aussichtlos.

Trümmer der abgestürzten Maschine (Foto: MAK)

Wie die Bremswirkung auf die Räder entstanden war, klärte sich erst auf, als Testpiloten den Startvorgang mit einer anderen Jak-42 nachstellten. Achtmal simulierten sie den langen „Anlauf“ und kamen letztlich zu dem Schluss, dass einer der beiden Piloten – welcher, war nicht festzustellen – unbewusst gebremst haben musste. Im Abschlussbericht heißt es dazu, in der gesamten Geschichte dieses Flugzeugtyps, von dem zwischen 1977 und 2003 knapp 200 Stück hergestellt wurden, sei dieser Vorfall einmalig.

Macht der Gewohnheit

Weitere Nachforschungen brachten laut MAK ans Licht, woran das gelegen haben könnte. So hatten der Flugkapitän und sein Copilot Igor Schewelow zusammen zwar rund 20.000 Flugstunden auf dem Buckel, davon aber nur 2000 Stunden auf der Jak-42. Der weitaus größere Teil entfiel auf die kleinere Jak-40, deren Cockpit sich in einigen entscheidenden Details von der größeren Schwester unterscheidet, darunter auch bei der Bedienung der Pedalen und der nötigen Fußstellung. Nach Auffassung der Ermittler kam es dadurch zu einer fatalen „negativen Übertragung von Gewohnheiten“. Außerdem habe die Besatzung im entscheidenden Moment unkoordiniert und ohne klare Ansage des Kapitäns gehandelt, denn der gefühlte Chef im Cockpit war der Copilot. Und so lief an jenem 7. September alles falsch, was selbst altgediente Flieger bis dahin für undenkbar gehalten hatten.

Die Untersuchung ergab darüber hinaus, dass die Fluggesellschaft Jak-Service weder über eigene Flugzeuge noch Besatzungen verfügte. Die wurden stattdessen von privaten oder staatlichen Anbietern geliehen. Eine kontinuierliche Pilotenaus- und -weiterbildung sei deshalb, so das MAK, nicht erfolgt, die Qualifikation der betreffenden Besatzung habe zu wünschen übriggelassen, der Copilot zudem ein Beruhigungsmittel genommen und damit über eine eingeschränkte Reaktionsschnelligkeit.

Freiheitsstrafe und Amnestie

In einem Gerichtsverfahren wurde ein Stellvertreter der Fluggesellschaft angeklagt und 2015 wegen Verstößen gegen die Flugsicherheit zu fünf Jahren Haft verurteilt, doch im selben Atemzug zum 70. Jahrestag des sowjetischen Sieges über Deutschland amnestiert. Er verließ das Gericht als freier Mann. Die Vorwürfe hatte er zurückgewiesen. Auch die Angehörigen der Piloten wehrten sich öffentlich gegen die Anschuldigungen und forderten weitere Ermittlungen.

Die russische Luftfahrtbehörde Rosawijazija entzog Jak-Service die Lizenz, woraufhin die Fluggesellschaft, die eigentlich gar keine war, ihren Betrieb einstellte. Maschinen vom Typ des Unglücksfliegers Jak-42, der für den Absturz offenbar nichts konnte, werden bis heute im Reiseflugverkehr von den kleinen Airlines KrasAvia und Izhavia betrieben. Der Techniker Alexander Sisow als einziger Überlebender des Unglücks von 2011 kehrte nach langer Reha in seinen Beruf zurück. Er lebt mit Frau und Sohn in Schukowskij bei Moskau. Mit Journalisten redet er nicht.

Und Lokomotive? Seit dem Tod seiner Mannschaft hat der Klub nicht mehr am 7. September gespielt. Bis heute. Für 19.30 Uhr ist ein Heimspiel gegen den damaligen Gegner Dynamo Minsk angesetzt. Auf Bitten von Lokomotive, wie die KHL mitteilte. Es dürfte ein emotionaler Abend werden.

Tino Künzel

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