Bürger von Cavendish, liebe Nachbarn! Vor 17 Jahren habe ich auf einer derartigen Gemeindeversammlung davon erzählt, wie man mich aus meiner Heimat verjagt hat und welche Maßnahmen ich gezwungenermaßen ergriffen habe, um in Ruhe arbeiten zu können, ohne von ständigen Besuchern behelligt zu werden.
Ihr habt großes Verständnis dafür aufgebracht und mir meinen ungewöhnlichen Lebensstil nachgesehen, ja sogar auf eure Weise mein Privatleben beschützt. Dafür war ich euch in all den Jahren zutiefst dankbar und will euch heute noch einmal danken. Euer Wohlwollen hat dazu beigetragen, dass ich hier die bestmöglichen Voraussetzungen für meine Arbeit hatte.
„Produktiveste Zeit meines Lebens“
Diese 18 Jahre waren die produktivsten meines Lebens. Ich habe absolut alles geschrieben, was ich wollte. Jene Bücher, die ins Englische übersetzt wurden, übergebe ich heute der Stadtbibliothek.
20 Jahre im Exil
1974, kurz nach dem Erscheinen von „Der Archipel Gulag“ im Westen, wurde Alexander Solschenizyn festgenommen. Die Sowjetunion entzog ihm die Staatsbürgerschaft und schob den Schriftsteller ab. Solschenizyn lebte mit Frau und Kindern zunächst in der Schweiz, siedelte nach zwei Jahren in die USA um. 1994 kehrte er triumphal nach Moskau zurück, auf eigenen Wunsch per Bahnfahrt von Wladiwostok. Unterwegs wurde er von Tausenden erwartet und gefeiert.
Unsere Söhne sind hier aufgewachsen und zur Schule gegangen, zusammen mit euren Kindern. Ihnen wurde Vermont zum Zuhause. Und unsere gesamte Familie hat sich bei euch heimisch gefühlt. Exil ist immer hart, aber ich könnte mir keinen besseren Ort zum Leben und Warten vorstellen. Zum Warten auf die alles andere als baldige Rückkehr in die Heimat.
In diesem Frühjahr nun, Ende Mai, kehren meine Frau und ich nach Russland zurück, das eine der schwersten Zeiten seiner Geschichte durchlebt – eine Zeit der Verarmung großer Teile der Bevölkerung und des Verfalls der Sitten, eine Zeit der Rechtlosigkeit und der wirtschaftlichen Wirren. So teuer kam uns die Überwindung von 70 Jahren Kommunismus zu stehen, in denen wir allein durch den Terror des kommunistischen Regimes gegen das eigene Volk bis zu 60 Millionen Menschen verloren haben. Ich hoffe, meiner gepeinigten Nation wenigstens eine kleine Hilfe zu sein. Aber der Erfolg meiner Bemühungen ist ungewiss. Der Jüngste bin ich auch nicht mehr.
„Demokratie von unten“
Hier in Cavendish und in seiner Umgebung habe ich beobachten können, wie selbstverständlich Demokratie von unten funktioniert. Die lokale Bevölkerung entscheidet über die meisten Alltagsfragen selbst, anstatt auf Entscheidungen höherer Instanzen zu warten. In Russland fehlt uns das und das ist einer der größten Mängel bis zum heutigen Tag.
Unsere Söhne werden ihren Bildungsweg in Amerika fortsetzen. Unser Haus in Cavendish bleibt vorerst ihr Heim.
Wenn ich in diesen Tagen durch die angrenzenden Straßen laufe und einen letzten Blick auf die Umgebung werfe, dann ist jede Begegnung mit den Nachbarn freundlich und warmherzig. Heute möchte ich allen, denen ich über die Jahre begegnet oder auch nicht begegnet bin, zum Abschied Danke sagen. Mögen Cavendish und seine Nachbarorte gedeihen. Behüte euch alle Gott!
Übersetzt von Tino Künzel
„Dear Mr. President“
Was Solschenizyn 1981 an Reagan schrieb
Kurz vor und nach seiner Amtseinführung als neuer US-Präsident Anfang 1981 suchte Ronald Reagan den Kontakt zu Alexander Solschenizyn. Der war an einem persönlichen Gespräch durchaus interessiert, nicht aber an einem Mittagessen im größeren Kreis, wie es dann stattfand. Der Literaturnobelpreisträger sagte ab und schrieb Reagan einen offenen Brief, den unter anderem die „Washington Post“ abdruckte.
Dear Mr. President! Ich bewundere viele Aspekte Ihrer Arbeit, freue mich für Amerika, dass es endlich so einen Präsidenten hat, und danke Gott immer noch dafür, dass Sie von den heimtückischen Kugeln nicht getötet wurden.
Allerdings ging es mir nie darum, im Weißen Haus empfangen zu werden – weder unter Präsident Ford (als die Frage ohne mein Zutun aufkam) noch später. In den letzten Monaten haben mich auf verschiedenen Wegen indirekte Anfragen erreicht, unter welchen Umständen ich bereit wäre, einer Einladung ins Weiße Haus zu folgen. Meine Antwort war immer dieselbe: Ich bin bereit, eine echte, ernsthafte und effektive Unterredung mit Ihnen zu führen, aber ich komme nicht einer äußerlichen Zeremonie zuliebe. Für symbolische Treffen fehlt mir die Lebenszeit.
Verkündet wurde mir jedoch (per Telefonat mit Berater Pipes) kein persönliches Treffen mit Ihnen, sondern ein Essen, an dem Politiker aus Emigrantenkreisen teilnehmen. Die Presse verlautbarte unter Berufung auf dieselben Quellen, es handele sich um ein Essen „für sowjetische Dissidenten“. Nach russischem Verständnis zählt ein Schriftsteller weder zu den einen noch zu den anderen. […]
Schlimmer noch, […] es wurde öffentlich und vom Weißen Haus unwidersprochen ein Grund genannt, weshalb man ein gesondertes Treffen mit mir als nicht wünschenswert erachtete: Ich sei ein „Symbol des äußersten russischen Nationalismus“. Diese Formulierung stellt eine Beleidigung für meine Landsleute dar, deren Leid ich mein gesamtes Leben als Schriftsteller gewidmet habe.
Ich bin überhaupt kein „Nationalist“, sondern ein Patriot. Das heißt ich liebe mein Vaterland – und verstehe deshalb umso besser, dass andere ihres gleichfalls lieben. Ich habe wiederholt öffentlich zum Ausdruck gebracht, dass die Lebensinteressen der Völker der Sowjetunion es verlangen, unverzüglich alle planetarischen sowjetischen Eroberungen zu beenden. Wenn in der Sowjetunion Leute an die Macht kämen, die ähnlich wie ich denken, dann wäre ihre erste Handlung, sich aus Mittelamerika, aus Afrika, Asien und Osteuropa zurückzuziehen und die dortigen Völker selbst über ihr Schicksal entscheiden zu lassen. Ihre zweite Handlung wäre, das tödliche Wettrüsten zu beenden und die Kräfte des Landes stattdessen auf die Heilung der inneren, schon fast hundertjährigen Wunden, einer fast schon sterbenskranken Bevölkerung zu richten. Und ganz gewiss würden sie die Tore für alle öffnen, die aus unserem misslichen Land emigrieren wollen.
Erstaunlich, dass das alles Ihren engsten Beratern nicht passt und sie so ein Programm als „äußersten russischen Nationalismus“ bezeichnen! […] Seltsam, dass das russische Nationalbewusstsein nicht nur der sowjetischen Führung Angst macht, sondern auch Ihrer Umgebung. […]
Übersetzt von Tino Künzel