Gefährlicher Scherz: Wie ein Schriftsteller „gecancelt“ wird

Noch vor Kurzem galt Boris Akunin als populärster zeitgenössischer russischer Schriftsteller. Doch nun ist er ein „ausländischer Agent“, ein „Terrorist und Extremist“, so die Behörden. Im Buchhandel und in den Bibliotheken braucht man nach Akunin gar nicht mehr zu fragen. Was ist da passiert?

Boris Akunin* stellt sein Buch zur Geschichte Russlands vor. (Foto: RIA Novosti)

Die Moskauerin Swetlana Kusnezowa (45) ist eine langjährige Verehrerin und Leserin von Boris Akunin*. Bereits Ende der 1990er Jahre, als es in den Buchhandlungen seine ersten Bücher über den Detektiv Erast Fandorin gab, hatte sie keine Neuerscheinung verpasst. Swetlana kaufte die Taschenbuchvariante, sie war preiswerter. Diese Krimis las die ganze Familie. Ein Erinnerungsbild:  Ihre Mutter, ihr Vater, sie und ihr Bruder liegen am Strand bei Odessa; jeder von ihnen hält ein Buch von Akunin* in der Hand.

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Erst später erfuhr sie, dass Akunin* in Wirklichkeit Grigori Tschchar­tischwili heißt. Es gibt Bücher von ihm, die sowohl unter seinem richtigen Namen erschienen sind oder unter anderen Pseudonymen.

Sie hat viele Bücher des Schriftstellers bei sich zu Hause. Nicht nur Krimis, sondern auch „Die Geschichte des russischen Staates“ und „Fotos wie ein japanisches Gedicht“ oder auch „Friedhofsgeschichten“. Alle kann man nicht aufzählen. Mit einem Wort, es sind viele. Vieles hat ihr in seinen Büchern gefallen. Nicht nur der Stil und die Handlung, sondern auch die liberalen Ideen.

Im vorigen Sommer las sie im Urlaub eine Geschichte über den Gehilfen Erast Fandorins, den Japaner Masa, und wollte das neue Buch über ihn, „Die Grube“ kaufen. Es war recht teuer. Und sie verschob den Kauf auf Neujahr. Sie wollte sich ein Geschenk unter den Tannenbaum legen und während der langen Feiertage das Buch lesen.

Nicht nur Bücher

Unannehmlichkeiten waren nicht in Sicht. Boris Akunin* übte schon lange Kritik an der russischen Obrigkeit. Er äußerte sich gegen den Anschluss der Krim an Russland und gegen die „militärische Sonderoperation“. Aber seine Bücher wurden verlegt und in den Theatern des Landes inszeniert. Im vergangenen Jahr kam noch der Film „Fandorin. Asasel“ in die Kinos.

Aber zwei Wochen vor Silvester verschwanden alle Bücher Boris Akunins* unerwartet aus den Buchhandlungen. Innerhalb eines Tages. Swetlana fragte in den Buchläden nach, jedoch taten die Verkäuferinnen so, als ob sie den Namen Akunin* das erste Mal hörten. Selbst im Verlag „AST“, der „Die Grube“ verlegt hatte, konnte man die Bücher nicht bekommen. Auch online nicht. Seine Bücher kann man sogar nicht aus der Bibliothek ausleihen. „Akunin* gibt es nicht mehr. Wohin man seine Bücher gebracht hat, wissen wir nicht“, sagte man Swetlana in der Bücherei in der Nähe ihrer Wohnung. „Vielleicht kommen die Bücher mal wieder zurück, alles ist möglich“. Man riet ihr, auf den Internetseiten zu suchen, wo gebrauchte Sachen verkauft werden. Da kann man wirklich viele Bücher von Akunin* finden (aber „Die Grube“ nicht).

„So weit ist es schon gekommen, wenn bald wieder Bücher verbrannt werden“, erregte sich Swetlana Kusnetzowa, als sie mit ihrer Freundin sprach. Diese klärte sie auf.

Das Telefonat und seine Folgen

Es war so, dass Akunin* am 13. Dezember vom „ehemaligen Kulturminister der Ukraine Alexander Tkatschenko“ angerufen wurde. Und der Schriftsteller versicherte ihm „bereit zu sein, Kiew zu helfen“. Er sagte, dass er den in der Ukraine beliebten Ausspruch „ein guter Russe ist ein toter Russe“ nicht verurteilt und auch die Drohnenangriffe auf russische Städte durch die ukrainischen Streitkräfte nicht.

Aber in Wirklichkeit hatte nicht Tkatschenko angerufen. Den Schriftsteller hatten die Spaßvögel  Wowan und Lexus aufs Glatteis geführt. Das Gespräch haben sie auf ihrem Telegram-Kanal veröffentlicht. Danach nahm alles seinen Lauf. Der Verlag „AST“ verkündete sofort die Einstellung der Herausgabe und des Vertriebs der Bücher Akunins*. Eine Reihe von Buchhandlungen stellte den Verkauf ein. Der Abgeordnete der Staatsduma Andrej Guruljew nannte den Schriftsteller einen „Feind“ und rief zu seiner „Vernichtung“ auf.

Nach ein paar Tagen, am 18. ­Dezember, eröffnete der russische Untersuchungsausschuss eine Strafsache gegen Boris Akunin* wegen „Falschinformationen über die Armee und wegen öffentlicher Befürwortung von Terrorismus“. Danach setzte ihn Rosfinmonitoring unter seinem wirklichen Namen Grigori Tschchartischwili auf die Liste der Terroristen und Extremisten.

Am 19. Dezember gab es eine Hausdurchsuchung im Verlag „Sacharow“, der zum Beispiel alle Werke über Fandorin verlegt hatte. Boris Akunin* kommentierte das folgendermaßen: „Ich denke, das ist nur der Anfang. Sie werden auch in andere Verlage kommen, die meine Bücher verlegt haben. Und in die zahlreichen Theater, die meine Stücke inszeniert haben. Und in die Bibliotheken. Natürlich auch in die Filmstudios, weil die Filmkunst von allen Künsten die Wichtigste ist.“

„Wir trennen uns nich für lange“

Am 12. Januar 2024 wurde Boris Akunin* als „ausländischer Agent“ eingestuft. Im Februar hat ihn ein Gericht in Moskau auf Antrag der Untersuchungsorgane in Abwesenheit wegen Aufrufen zum Terrorismus und zu Falschmeldungen über die Armee verhaftet.

Der Schriftsteller wandte sich an seine russischen Leser und schrieb: „Wenn wir uns trennen, dann nicht für lange“.

In den letzten Monaten sind nach den vertraulichen Gesprächen mit „Vertretern der Ukraine“, die in Wirklichkeit die Prankster Wowan und Lexus waren, auf ähnliche Weise noch die Schriftsteller Dmitri Bykow* und Ljudmila Ulizkaja abgesetzt worden.


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als „ausländischer Agent“ ein­ge­stuft

Olga Silantjewa

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