Eine Frage des Standpunkts

Weitsicht ist ein ziemlich rares Gut. Das muss man als Moskauer gerade in diesen Zeiten wieder feststellen, Sie wissen schon. Immerhin bietet Moskau aber genügend Möglichkeiten, einfach nur gewisse Höhen zu erklimmen und die Aussicht von dort zu genießen. Auch das kann lehrreich sein.

Der Moskauer Fernsehturm hat seine Fenster teilweise im Fußboden. (Foto: Tino Künzel)

Eine populäre Meinung lautet, dass Moskau besonders vorteilhaft ausschaut, wenn man sich in die Tiefe begibt. Aber nichts gegen die Unterwelt aus über 250 Metrostationen: Letztlich zieht es den Menschen dann doch zum Licht, wo es natürlich auch mehr zu sehen gibt – sofern man denn einen Blick dafür hat. Denn Moskau ist eine anstrengende Stadt, sie macht die Augen müde. Schon deshalb ist es eine gute Idee, sich ungewöhnliche Perspektiven zu suchen, um die Routine des Alltags abzuschütteln und die Aufmerksamkeit wieder zu schärfen. Aussichtsplattformen sind dafür bestens geeignet. Wo also liegt einem Moskau zu Füßen?

Kasaner Bahnhof

Seit einigen Wochen kann der Turm des Kasaner Bahnhofs nicht mehr nur vom Bahnhofsdirektor – der hier sein Büro hat – bestiegen werden. Selbstständig geht das allerdings nicht. Man muss sich am Schalter des Wartesaals „Komfort“ einfinden, wo eine Aufsichtsperson die Wartenden zu Beginn jeder vollen Stunde von 10 bis 19 Uhr abholt. Ob die Gruppe mehrere Personen zählt oder man vielleicht der Einzige ist, spielt dabei keine Rolle. Vermutlich soll der Mann die Sicherheit gewährleisten, andererseits ist seine Begleitung schon deshalb unerlässlich, weil während des Aufstiegs einige Metallgitter geöffnet und wieder geschlossen werden müssen.

Im Turm des imposanten Kasaner Bahnhofs wurde unlängst eine Aussichtsplattform eingerichtet. (Foto: Tino Künzel)

Bislang scheint die Aussichtsplattform eher ein Geheimtipp zu sein. Bis zu 100 Leute bringe er pro Tag nach oben, erzählt der Mitarbeiter. Dafür müssen am Schalter zunächst 300 Rubel Eintritt bezahlt werden (oder 350 Rubel inklusive Audioguide). Nach oben hin verengt sich die Treppe und man wird auch gewarnt, den Kopf einzuziehen.

Der Komsomolskaja-Platz mit dem Leningrader und dem Jaroslawler Bahnhof (Foto: Tino Künzel)

Der Blick aus 70 Metern Höhe auf den Komsomolskaja-Platz mit dem Kasaner Bahnhof auf der einen sowie dem Leningrader und dem Jaroslawler Bahnhof auf der anderen Seite ist nicht unbedingt spektakulär. Doch er ist eine gute Gelegenheit, überhaupt in aller Ruhe Details wahrzunehmen. Wer als Fernpassagier oder Pendler zu seinem Zug hastet, hat dafür in der Regel weder Zeit noch Interesse.

Fernsehturm

Der Moskauer Fernsehturm, von 1960 bis 1967 gebaut und 540 Meter hoch, schmückte zu Sowjetzeiten Postkarten und Briefmarken. Er war eine der beliebtesten Sehenswürdigkeiten der Stadt und galt als unübersehbarer Beweis für die Leistungsfähigkeit des Systems. Heute ist der Stolz jener Jahre verflogen. Doch sich diesem Ungetüm von unten zu nähern und mit einem Fahrstuhl 337 Meter nach oben zu fahren, hinterlässt noch immer bleibende Eindrücke. Zum Vergleich: Der Eiffelturm ist „nur“ 330 Meter hoch, inklusive Antenne.

Der Fernsehturm in Ostankino ist auch fast 50 Jahre nach seiner Fertigstellung noch immer das höchste Bauwerk in Europa. (Foto: Tino Künzel)

Da sich Europas nach wie vor höchstes Bauwerk im Stadtteil Ostan­kino und damit im Norden von Moskau befindet, sind das WDNCh, der Botanische Garten, Sokolniki und die Elcheninsel besonders gut auszumachen. Schwer zu sagen ist dagegen, wo Moskau eigentlich aufhört. Die endlosen sowjetischen Plattenbauviertel am Stadtrand gehen mehr oder weniger nahtlos über in ebensolchen Massenwohnungsbau in den Vororten.

So sieht Moskaus Nordwesten aus über 300 Metern Höhe aus. (Foto: Tino Künzel)

Von der geschlossenen Aussichtsplattform mit ihrer 360-Grad-Glasfront führt eine Treppe noch drei Meter höher ins Freie. Das ist durchaus weniger beängstigend als einige in den Fußboden eingelassene Glasquadrate. Sie hielten ein Gewicht von bis zu drei Tonnen aus, wird man auf einer kleinen Führung beruhigt. „Selbst wenn Sie gut gefrühstückt haben“, könne beim Betreten nichts passieren.

Wer den Fernsehturm besichtigen möchte, muss sich hier voranmelden. Zur Auswahl stehen Uhrzeiten von 10 bis 22 Uhr zum Standardpreis von 1200 Rubel. Bis 12 Uhr gilt an Werktagen ein Tarif von 900 Rubel. Für den Weg von der Metrostation WDNCh, die Personenkontrollen und den Umweg zur Kasse, wo das Ticket ausgedruckt werden muss, sollte eine Stunde eingeplant werden.

Moskau-City

Im Wolkenkratzer-Viertel von Moskau behaupten gleich zwei Aussichtsplattformen, die höchste in Europa zu sein. „Panorama 360“ heißt die eine und befindet sich im 89. Stockwerk des Födera­tionsturms Ost. Das macht eine Höhe von 327 Metern, was auf der entsprechenden Webseite mit „77 Giraffen übereinander“ veranschaulicht wird. Geöffnet ist täglich von 10 bis 23 Uhr, freitags und samstags bis 0 Uhr. Für den Spaß hinter Glas werden 2290 Rubel berechnet, etwa 25 Euro.

Etwas preiswerter kommt man mit 1800 Rubel im Wolkenkratzer Oko weg. Hier geht es sogar bis aufs Dach in 354 Metern Höhe, was alternativ als 92. Stock angegeben ist. Bei Regen werden Schirme ausgeteilt. Gebucht wird hier. Die Termine beginnen ab 12 Uhr, samstags und sonntags ab 10 Uhr. Letzter Einlass ist 22 Uhr.

Zweifellos das meiste Publikum lockt in Moskau-City aber eine dritte Aussichtsplattform an. Sie ist kostenlos und ebenerdig. Von dem Areal neben dem Eingang zur Fußgängerbrücke über die Moskwa aus Richtung des Kutusow-Prospekts hat man einen idealen Blick auf Moskau-City selbst. Wahrscheinlich werden in Moskau nur noch auf dem Roten Platz mehr Selfies geschossen als hier.

Die Büro- und Wohntürme von Moskau-City: Auf ein einzigen Fleck stehen hier sieben der zehn höchsten Wolkenkratzer Europas. (Foto: Tino Künzel)

Sperlingsberge

Moskau liegt dankenswerterweise in einer Hügellandschaft und hat deshalb auch natürliche Erhebungen mit toller Aussicht zu bieten. Schon Napoleon schaute 1812 vom Poklonnaja-Berg auf die Stadt, bevor er sich im Kreml einquartierte, was ihm noch leidtun sollte. Auch der Kreml thront auf einer Anhöhe, was besonders von den nahen Moskwa-Brücken nicht zu übersehen ist.

Der meistfrequentierte „Balkon“ von Moskau. Auch der Blick durchs Fernrohr lohnt sich und ist übrigens kostenlos. (Foto: Tino Künzel)

In den Sperlingsbergen südlich des Stadtzentrums beträgt der Höhenunterschied zur Moskwa bis zu 70 Meter. Deshalb ist ein Weitwinkelblick auf Moskau von hier aus bei jedem Wetter garantiert: von Moskau-City zur Linken bis zur Akademie der Wissenschaften zur Rechten. Im Vordergrund: das Luschniki-Stadion und andere Sportanlagen. Dorthin verkehrt auch eine Seilbahn.

Wer sich quasi noch auf die Zehenspitzen stellen möchte, der kann eine Führung im nahen Hauptgebäude der Lomonossow-Universität buchen. Eines der Highlights ist die Aussichtsplattform im 32. von 36 Stockwerken der höchsten „Stalin-Schwester“. Haken an der Sache: Die Führung kostet sage und schreibe 10.000 Rubel pro Gruppe, die selbst gebildet werden muss und nur aus ein bis drei Personen bestehen darf. Wen das nicht schreckt, der kann sich hier anmelden.

Auch die Lomonossow-Universität auf den Sperlingsbergen wirbt mit einer Aussichtsplattform, der Zugang ist jedoch umständlich und teuer. (Foto: Tino Künzel)

Christ-Erlöser-Kathedrale

Die wichtigste russisch-orthodoxe Kirche in Russland wurde gleich zweimal errichtet. Weil Stalin das 1883 eingeweihte Orginal 1931 sprengen ließ, um Platz zu schaffen für den gigantomanischen (und zum Glück unverwirklicht gebliebenen) Palast der Sowjets, steht an gleicher Stelle seit 2000 ein orginalgetreuer Nachbau. Etwa auf halber Höhe verläuft eine Aussichtsplattform einmal um seine vier Wände. Die sogenannten Terrassen sind durch Treppen in den Ecktürmen miteinander verbunden.

Die Christ-Erlöser-Kathedrale: In den letzten Jahrzehnten der Sowjetunion wurde die Baulücke nach dem Abriss des Originals mit einem der größten Freibäder der Welt gefüllt. (Foto: Tino Künzel)

Zu sehen gibt es in allen vier Himmelsrichtungen so viel, dass man sich Zeit für eine Umrundung nehmen sollte. In unmittelbarer Nähe unter anderem: die historisch bedeutenden Innenstadtstraßen Ostoschenka und Pretschistenka, das Puschkin-Museum, der Kreml, das geschichtsträchtige Haus am Ufer, die Patriarchenbrücke und die ehemalige Schokoladenfabrik Roter Oktober (ursprünglich unter dem Namen Einem von einem Deutschen gegründet), deren postindustrielle Nachnutzung durch Kreative in Moskau auch anderswo Schule gemacht hat.

Das Ticket für die Aussichtsplattform kostet 400 Rubel und kann an einem der Kioske mit der Aufschrift „Смотровая площадка“ auf dem Außengelände der Kathedrale gelöst werden, aber auch gleich nach Betreten des Haupteingangs. Nach oben geht es per Fahrstuhl, nach unten führt auch eine Treppe, auf der man sich eher in einem verwinkelten Altbau wähnt. Möglich ist der Aufstieg während der Öffnungszeiten der Kirche.

P.S.

Als erhöhte Standorte für besondere Ausblicke empfehlen sich im Stadtzentrum auch das begehbare Dach des Kaufhauses Detski Mir am Lubjanka-Platz, der Iwan-der-Große-Glockenturm im Kreml, der Park Sarjadje mit seiner „Schwebenden Brücke“ und – etwas außerhalb – die Aussichtsplattform zu Füßen der Akademie der Wissenschaften.

Vom Ausguck bei der Akademie der Wissenschaften sind unter anderem die Sperlingsberge, Moskau-City und der dritte Stadtring zu sehen. (Foto: Tino Künzel)
Die „Schwebende Brücke“ ist eines der Highlights im Park Sarjadje nahe dem Roten Platz. (Foto: Tino Künzel)

Wer den Weg raus aus dem Zentrum an den Stadtrand nicht scheut, der wird im Park Krylatskije Cholmy (Hügel von Krylatskoje) mit ganz anderen Eindrücken belohnt. Von den höchsten Gipfeln können einige Sportanlagen der Olympischen Spiele 1980 in Augenschein genommen werden, nämlich der Ruderkanal, die Indoor-Radrennbahn und die Outdoor-Piste für Radrennen, wo heute jeder seine Runden drehen kann. Im Winter machen die relativ steilen Hänge den Park zu einem Mekka des alpinen Skisports in Moskau.

Die Hügel von Krylatskoje verschaffen dem Spaziergänger einen Logenplatz, um die nähere und fernere Umgebung zu studieren. (Foto: Tino Künzel)
Im Winter ist hier Abfahrslauf angesagt, auch schon bei den Kleinsten. (Foto: Tino Künzel)

Tino Künzel

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: