Ein wild bewegtes Leben auf Russisch

Meister und MagneteRussland ist ja riesig und Moskau ist der mit Abstand größte Schmelztiegel unseres Kontinents, ein Magnet für Menschen aller Couleur, mit ungewöhnlichen Talenten, mit erstaunlicher Schaffenskraft. Manche bringen es nach oben, manche bleiben unten. Die meisten mittendrin. Unser Autor Frank Ebbecke stellt sie hier vor. Heute: Martina Wiedemann.

Ganz schön hibbelig, diese Martina Wiedemann. Frau Dr. – in Philologie – ist selbst beim mehrfachen Kaffee am Tisch immer irgendwie in Bewegung. Mit Armen und Händen, im Kopf und beim überflutenden Erzählen. Die Zigarette geht dabei selten aus. „Bin wie ein Kolibri, immer flattern, nie ausruhen“, beschreibt sie ihre ansteckende Unrast. Nein, stillsitzen, das kann sie schlecht. Es sei denn im Auto. So gut wie jedes Jahr für tausende von Kilometern, für Tage und Wochen. Dann, wenn sie sich auf Tour in ihre Vergangenheit macht. Gerade erst ist sie zurückgekommen. Von einem gewaltigen Rundumkurs zu Verwandten und Bekannten. Über Warschau und Wroclaw in Polen, Elz bei Limburg und Todtmoos im Schwarzwald, dem schweizerischen Zürich, Potsdam und Hamburg zurück nach Hause. Und das ist Moskau. Schon mindestens ihr halbes Leben lang.

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Die Unternehmerin und Journalistin Martina Weidemann / Privat

Aber spätestens, seitdem sie hier am 20. März letzten Jahres ihren russischen Lieblingsmann Slawa geehelicht hat. Als sie ihm vor getragener Tschaikowski-Klangkulisse im Ausländerstandesamt Nr. 4 das Ja-Wort gab, hat die 61-Jährige geheult. Vor lauter Rührung und noch lange nicht zu spätem Glück. Den Konferenztechniker Wjatscheslaw hatte sie bei einer ihrer zahlreichen Tätigkeiten schon vor gut zehn Jahren kennengelernt. Er verkörpert genau das, was sie an russischer Mentalität so schätzen gelernt hat. Von frühester Jugend an. Denn Martina stammt aus dem einstmals sozialistischen Teil Deutschlands. Und das bis heute gerne. „Hier leben die normalen Menschen im freien Fall, klagen nicht, rappeln sich immer wieder auf und sind auch so ganz glücklich“, zollt sie unverhohlene Bewunderung. Mit einer Nachbarin hat sie schon mal den letzten Teebeutel geteilt. Und von einer befreundeten Familie aus Mutter und zwei erwachsenen Töchtern weiß sie, dass sie sich in der nahenden Kaltsaison wieder einen einzigen Wintermantel teilen müssen. Na und?

Ihre Wohlgesinnung gegenüber Russen und dem Russischen wurde ihr gleich in die Wiege gelegt. Die stand am 11. Dezember 1954 im gerademal 2000-Seelen-Weiler Wolkenburg, unweit von Karl-Marx-Stadt in Sachsen. Ihre Mutter ein Kriegsflüchtling aus Schlesien, ihr Vater ein Adoptivkind aus dem Dorf. Beide in der örtlichen Weberei tätig. Martina blieb ein Einzelkind und in der verwandtschaftlichen Wohngemeinschaft unter vielen Nachkommen das einzige Mädchen. So konnte es nicht ausbleiben, dass sie sich eher als weiblicher „Lausbub“ durchsetzen musste: „Ich war wild, hab‘ Fußball gespielt und mich mit den Jungens geprügelt“, sagt sie und lacht. Sie war 10 und das einzige Mädchen, das nach den ersten Rauchversuchen mit fingerfertig gedrehten Kastanienblättern in der Schule buchstäblich an den Pranger gestellt wurde. Auch auf der Oberschule in der Kreisstadt Glauchau war sie als „frech“ verschrien, aber ansonsten sehr gut angesehen, denn beim Lernen punktete sie. Besonders im Russischunterricht. Auch Geschichten schreiben gehörte zu ihren Paradedisziplinen. Bei der „Jugendweihe“ mit 14 hielt sie die Festrede.

Im lupenrein sozialistischen Umfeld blühte Martina voll auf. Es folgten die Lager der „Jungen Pioniere“, ein blendendes Abitur und Erstplätze in der sogenannten „Russisch-Olympiade“ der DDR. So privilegiert hat sie dann vier Jahre lang – „eine Wertezeit“ – an der Pädagogischen Hochschule Sanssouci in Potsdam ihr geliebtes Russisch pauken können. „Weil da so viele junge Frauen studierten, wurde die im Volksmund nur PHP genannt, Puff hinterm Park“, schmunzelt sie lebenslustig. Für ein Wintersemester durfte sie nach Kaluga und einmal im Jahr als Dolmetscherin mit verdienten Jugendlichen im „Freundschaftszug“ nach Moskau oder in die Potsdamer Partnerstadt Minsk. Nach den selbstredend glänzenden Diplomen 1977 in Russisch und Englisch lehrte sie an einer Spezialschule für Russisch und dann am Potsdamer Helmholtz-Gymasium. Mit Bravour erwarb sie ihren Doktor-Titel 1985. Da war sie schon sieben Jahre verheiratet, Sohn Robert fünf und sie stolze Besitzerin eines Trabis in „sonnenbeige“. Sie beschreibt die Farbe eher „wie volle Babywindel nach Möhren“. Das nötige Kleingeld verdankte sie ihrer Reiselust und ihren perfekten Russisch-Kenntnissen. Als Gruppenbegleiterin sah sie Odessa, Jerewan und das damalige Leningrad.

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Im letzten Jahr gaben sie sich das Ja-Wort: Martina Wiedemann mit Ehemann Slawa / Privat

Martinas tiefe Neigung zum Russischen zieht sich wie ein roter Leitfaden durch ihr Leben. Und war immer wieder so etwas wie ein Rettungsring. 1994 kam dann aus heiterem Himmel ein unwiderstehliches Angebot zur Geschäftsführerin eines kleinen Hotels in Moskau. 48 Zimmer, gar mit Biergarten und Sauna. Gewisse, eher ungeliebte Gäste, die regelmäßig einfielen, machte sie sich redselig und resolut schnell zu – wenn auch teuren – „Freunden“: „Die fünfe-sechse waren die ‚Schutztruppe‘, wie so üblich damals im ‚Wilden Osten‘, mit zusammen wohl an die 150 Jahre Knast.“ Sohn Robert, inzwischen 36, ist schon seit Jahren hochzufriedener Koch im Restaurant eines der sehenswürdigen Zunfthäuser am Zürichsee. Er war damals erst 14 und wollte nicht mit nach Moskau. Er blieb beim Vater, einem einstmals strammen Nachrichtenoffizier der „Nationalen Volksarmee“, den man aber noch kurz vor der Wende 1988 wegen „ideologischer Differenzen“ aus DDR-Diensten geschmissen hatte. Danach konnte er sich nicht mehr so recht aufrappeln. Im Gegensatz zu Martina – sie waren schon getrennt, als es die Mutter nach Moskau gezogen hatte. Doch bis heute haben sich die drei ein inniges Verhältnis bewahrt, besuchen sich gegenseitig. Und auch Slawa, Martinas Neuer, gehört heute einvernehmlich zur erweiterten Familie.

Als irgendwann die Gehaltszahlungen der Hotelbesitzer ausblieben, eröffnete sich für Martina 1997 der Wechsel ins florierende Moskauer Nachtmilieu. Ein wohlbestallter Zahnarzt und Landsmann, aber ein Windei, wie sie später leidvoll erleben musste, wurde sich mit einem der neuen, geschäftigen Russen handelseinig und Martina wieder Direktorin. Sie nannte den Restaurant- und Disco-Club heimatverbunden „Friedrich II“. Für zwei Jahre wurden hier sogar mit freizügigem Striptease Gäste gelockt: montags Männerstrip, freitags Frauenstrip, samstags gemischt – das volle Programm. Dann machten Behörden den lukrativen Laden dicht. Und Martina wieder etwas ernsthafter weiter, als Leiterin der hiesigen Tochter eines deutschen Pharmahandels. Nach zwei Jahren hatte sie vom Managen die Nase voll und wollte sich in kreativeren Gefilden umtun. So schaffte sie sich mit dem ihr eigenen Elan und Ehrgeiz freie Aufträge als Aufnahmeleiterin für Fernsehteams von ARD, ZDF, Russia Today und den Radiosender „Stimme Russlands“. Sie arbeitete fest bei RIA Nowosti in der Abteilung für Außenbeziehungen in gleicher Funktion und schrieb Artikel für die „Moskauer Deutsche Zeitung“. Und unter dem Pseudonym Adele Sauer ein Buch mit dem Titel „Pelmeni und Sauerkraut“ und tingelte als Hotelservice-Trainerin durch die russische Provinz.

Was dieser Wirbelwind nicht schon alles getrieben hat. Neben ihrer allwöchentlichen Radioshow für „Komsomolskaja Prawda“ startet sie gerade wieder voll durch. Im Auftrag des weltweiten TV-Sender RT wird sie eine Serie von Fernsehreportagen über interessante deutsche Expats drehen, die in auch diesen andauernden Krisenzeiten Russland nicht den Rücken kehren wollen. Vielleicht muss einer ja wirklich ein bisschen verrückt sein, um in einem Land, das immer noch im Umbruch ist, freiwillig und doch zufrieden überleben zu wollen. Martina Wiedemann hat alle Wirren und Irren aus eigener Kraft durchgestanden. Und ist in ihrem wild bewegten Leben ein wohltuend natürliches, lebensfrohes Original geblieben.

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