Ein Tag auf dem Erdbeerfeld bei Moskau: hart, aber herzlich

Russland erntet derzeit nicht nur die Früchte seiner WM-Vorbereitung. Auch auf den Erdbeerfeldern ist Hochsaison. MDZ-Redakteurin Ljubawa Winokurowa hat sich auf einer Plantage im Moskauer Umland als Helferin verdingt. Der Lohn: zehn Prozent der eigenen Ernte, eine gesunde Hautfarbe und Bauchschmerzen.

Auf den Moskauer Märkten kostet das Kilogramm Erdbeeren in etwa genauso viel wie sieben Liter Benzin, nämlich 250 bis 300 Rubel, das sind umgerechnet rund 3,40 bis 4,10 Euro. Man kann sich also entweder für eine große Erdbeer-Mahlzeit oder für eine Fahrt zum Beispiel vom Spartak-Stadion zum Tschechow-Museum in Melichowo entscheiden.

Die meisten Beeren werden in Russland nicht von Unternehmen angebaut, sondern von Kleingärtnern, auf die nach Angaben der Analysten von BusinessStart 70  Prozent aller Beerenkulturen entfallen. Wie viel die „Datschniki“ tatsächlich ernten, ist statistisch nicht erfasst. Bei Landwirtschaftsbetrieben lag die Zahl nach Angaben des staatlichen Statistikdienstes Rosstat im vergangenen Jahr bei 737.000 Tonnen. Erdbeeren werden vom Landwirtschaftsministerium nicht gesondert aufgeschlüsselt. Die Firma Technologii Rosta bezifferte die Erdbeerernte im Jahr 2015 auf 250.000 Tonnen. Der gesamte Beerenmarkt besteht zum überwiegenden Teil aus Importware (2017: 69 Prozent), das wichtigste Herkunftsland ist die Türkei.

In Deutschland gab das Statistische Bundesamt die Erdbeerernte im Jahr 2017 mit 135.000  Tonnen an, eine Zahl, die sowohl Freiflächen als auch Gewächshäuser berücksichtigt. Gleichzeitig ist Deutschland neben Kanada und Frankreich einer der größten Erdbeerimporteure der Welt. Laut der Firma IndexBox führen die drei Länder gemeinsam 51 Prozent des weltweiten Erdbeeraufkommens ein.

Unsere Ljubawa und ihre Fruchtzwerge. © Olga Woronenko

Die deutschen Landwirte klagen nicht erst seit gestern darüber, dass ihnen Helfer in ausreichender Zahl fehlen, um die Erdbeerfelder abzuernten. „Die Zeit“ schreibt, dass es jedem fünften Betrieb an Arbeitskräften mangelt. Simon Schumacher, Geschäftsführer des Verbandes Süddeutscher Spargel- und Erdbeeranbauer, sagte der „Zeit“, dass traditionelle Saisonarbeiter aus den EU-Ländern Polen, Rumänien und Bulgarien inzwischen lieber für Kurierdienste tätig sind, wo sie mehr verdienen oder sogar dauerhaft beschäftigt werden. Oft hat sich auch die wirtschaftliche Lage in ihren Heimatländern so verbessert, dass sie dort Jobs mit zufriedenstellender Entlohnung finden. Ihren Platz bei der Erdbeerernte könnten Menschen aus Serbien, Bosnien oder Weißrussland einnehmen, doch sie benötigen ein Visum.

In Russland gibt es kein Defizit an entsprechenden Arbeitskräften, was umso erstaunlicher ist, wenn man sich einen weiteren Unterschied vor Augen führt. Während bei der Erdbeerernte in Deutschland ein Stundenlohn von neun Euro gezahlt wird, so sind es auf russischen Feldern umgerechnet elf bis 13 Euro – am Tag. Manchmal werden eine Unterkunft und eine Basisverpflegung gestellt. Meist sind es Studenten und Geringqualifizierte aus den GUS-Ländern, die auch für solch kleines Geld den Rücken krumm machen.

Die Russen lieben einheimische Erdbeeren, die als aromatischer und süßer gelten als importierte. Das motiviert vor allem Rentner mit ihrer meist kleinen Rente dazu, sie auf den Feldern selbst zu pflücken. Jedes Jahr um diese Zeit werden im Moskauer Umland Freiwillige gesucht, die bei der Arbeit zwar kein Geld verdienen, aber zehn Prozent ihrer Ernte behalten dürfen. Das Allrussische Institut für Gartenbau gehört zu den Anbietern, die zu diesem populären Spaß unter der Sommersonne einladen. Interessenten werden um sechs Uhr morgens im nächstgelegenen Ort abgeholt und auf die Plantage gebracht, wo sie sieben bis acht Stunden zupacken müssen. Wer den Arbeitsplatz vorher verlässt, geht leer aus.

Erdbeeren zu pflücken, ist eine monotone Angelegenheit. Wer sich stundenlang nach jeder Beere gebückt hat, muss den aufrechten Gang erst wieder lernen und hat am nächsten Tag garantiert mit Muskelkater zu kämpfen. Die Früchte kommen in spezielle Körbchen, die anschließend gewogen werden. Jeder Freiwillige erhält eine Nummer, unter der notiert wird, wie viel er gepflückt hat. Würden auch die Helfer selbst gewogen, würde sich herausstellen, dass sie nach getaner Arbeit schwerer sind. Denn die Erdbeeren können nebenbei auch genascht werden, und zwar völlig legal. Arm wird den Betrieb dabei nicht, denn spätestens nach einer Stunde fängt ohnehin der Magen an zu rebellieren. Außerdem möchte man so viel wie möglich Obst mit nach Hause bringen, dafür muss man die Zeit zum Pflücken nutzen.

Auf den Beeten trifft man die unterschiedlichsten Leute: Rentnerinnen, die für gewöhnlich hart im Nehmen sind, Studenten und sogar Schnapsdrosseln. Letzteres ist gar nicht so verwunderlich: Erdbeeren vertragen sich gut mit Wodka und können im Falle des Falles auch Mitzechern verkauft werden. Die Aufsicht darüber, dass auf der Anlage alles schiedlich-friedlich abläuft, obliegt einem Wachmann. Bei Konflikten greift er ein.

Alles in allem ist die Atmosphäre auf dem Feld durchaus angenehm: Mal macht man einen Scherz mit dem Erdbeerpflücker nebenan, mal klinkt man sich in eine belauschte Unterhaltung ein. Worüber plaudert man so in Zeiten der Fußball-WM? Über Fußball natürlich! Die deutsche Nationalmannschaft hat hier nicht gerade viele Anhänger, doch nicht etwa aus historischen Gründen, sondern im Sinne der Gerechtigkeit. „Sollen die Deutschen etwa ständig gewinnen?“, fragt Valentina, die mit ihrem Mann im Einsatz ist, als hätte sie etwas geahnt.

Um die Mittagszeit muss man schon die letzten Reserven mobilisieren, um bei der Stange zu bleiben. Am Ende habe ich 15 Kilo Erdbeeren gepflückt und erhalte meinen Anteil – 1,5 Kilo. Wenn man einen Kilopreis von 300 Rubel (4,10 Euro) zu Grunde legt, die für die Erdbeeren in einem Kiosk ein paar Kilometer von der Plantage zu zahlen sind, dann habe ich in acht Stunden schweißtreibender Arbeit 450  Rubel verdient – etwas über sechs Euro. Rein wirtschaftlich betrachtet, macht die Plackerei also nicht den geringsten Sinn. Dafür kann man sich eine ordentliche Landbräune holen, sich mit Erdbeeren vollstopfen und wenigstens kurzfristig auch ein wenig sparen: Denn Erdbeeren kann man danach mindestens eine Woche lang nicht sehen.

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