Die Mobilmachung gegen und für die Wirtschaft

Alle Branchen sind von der Mobilmachung betroffen. Während die einen große Verluste melden, sind die anderen einem hohen Kundenzufluss ausgesetzt.

Erst 2019 eröffnete Mercedes feierlich ein Werk in Jesipowo bei Moskau. Derzeit ist die Branche in einer tiefen Krise. (Foto: Igor Beresin)

Fünf Gewinner

Psychologische Behandlung

Von der Verkündung der „Spezialoperation“ und dem Einmarsch der russischen Streitkräfte in die Ukraine waren bei Weitem nicht alle Russen begeistert. Für viele war es bestimmt ein Trauma. Nach dem 24. Februar ist sofort die Nachfrage nach Psychologen drastisch gestiegen, und zwar um 111 Prozent, wie die Recruiting-Agentur HeadHunter mitgeteilt hat. Seit Anfang 2022 haben fast 20.000 Russen ihre Bewerbungen als Psychologen bzw. Psychotherapeuten veröffentlicht oder aktualisiert, so HeadHunter weiter. Selbstverständlich können solche Nachrichten wie die Mobilmachung von Reservisten die ohnehin verstörten Menschen nicht beruhigen. Die Branchenexperten sprechen von einem rasanten Wachstum des Antidepressiva-Marktes. In der Woche vom 19. bis zum 25. September haben die Apotheken solche Mittel für 213,8 Millionen Rubel (etwa 3,5 Millionen Euro) verkauft. Die Anzahl der verkauften Packungen ist laut der DSM Group auf 289.200 gestiegen. Das waren 80 Prozent mehr als in der gleichen Periode des Vorjahres.

Notare

Ein anderer Recruiting-Dienst „Profi“ berichtet über die große Nachfrage nach notariellen Leistungen. Seit dem 21. September suchte man in Moskau sechsmal öfter als vor der Verkündung der Mobilmachung Notare auf. In St. Petersburg sind die Zahlen noch höher, da registriert man 8,5-mal mehr Anfragen als vorher. Das ist eine direkte Folge der Mobilmachung. Jedem ist klar: Nicht alle werden zurückkehren, man muss verschiedene rechtliche Aspekte, die im Zusammenhang mit dem Weggang der Männer, Väter und Söhne entstehen, im Schnellverfahren erledigen. Darüber hinaus wollen die Einberufenen ihren Familienmitgliedern Zugriff auf das Geld gewähren, das der Staat für die „Expedition“ verspricht (ob das Versprochene tatsächlich ausbezahlt wird, ist noch fraglich). Die Mobilmachung treibt die Nachfrage nach Beratungsleistungen von Rechtsanwälten in die Höhe. Der Zuwachs seit dem 21. September beträgt 48 Prozent.

Tastentelefone

Wer möchte ein Tastenhandy kaufen, wenn Smartphones zu niedrigen Preisen erhältlich sind und die Tarife für mobilen Internetzugang in Russland den Benutzern erlauben, rund um die Uhr im Netz zu sein und Filme online anzuschauen? Bis zuletzt kauften Russen solche Geräte für ihre Eltern, die mit der modernen Technik nicht vertraut sind, und ihre Kinder, in deren Schulen ein Verbot für Smartphones gilt. Nun kaufen sie Tastentelefone für sich. An die Front darf man mit einem Smartphone nicht. Der Mobilfunkanbieter Megafon berichtete, der Vertrieb von Tastentelefonen sei in der Woche vom 21. Bis zum 25. September um 86 Prozent gestiegen.

Ausrüstung und Waren für Tourismus

Auf verschiedenen Plattformen mangelt es nicht an Videos, aus denen man entnehmen kann, welche Sachen die Einberufenen an der Front benötigen und was sie sich selber kaufen sollten. Es geht unter anderem um Ausrüstung: Der Online Store Ozon hat in der Woche nach der Verkündung der Mobilmachung 3,2-mal mehr Schutzwesten verkauft als eine Woche zuvor. Ein ähnliches Bild war bei Ozons Konkurrenten Wildberries zu sehen: 2,1-mal mehr Schutzwesten, 2,2-mal mehr Schlafsäcke. Dass Russen nach der Schließung der Grenzen bei vielen zuvor begehrten Reisezielen ihr eigenes Land entdecken, ist richtig, aber derzeit fährt ein beträchtlicher Teil der Kunden, die Schlafsäcke kaufen, ins Ausland.

Tierkennzeichnung

Russen fahren nicht nur in die Ukraine. Hunderttausende sind in die Nachbarländer geflohen, und zwar nicht allein. Die Auswanderer nehmen ihre Vierbeiner mit. Die Wirtschaftszeitung „RBK“ berichtete, vom 22. September bis 3. Oktober haben Tierärzte 26,5-mal mehr Anfragen auf Tierkennzeichnung im Vergleich zum Vorjahr bekommen. Das Gleiche gilt für Schutzimpfungen gegen Tollwut. Das Tier darf über die Grenze, wenn es einen Monat vor der Reise geimpft wurde. Dabei akzeptieren viele ausländische Veterinärdienste keine russischen Impfungen, nur die von namhaften europäischen und amerikanischen Produzenten, so die Leiterin der Tierklinik AlterVet Jelena Orlowa.

Über die Grenze nur mit einem Chip und geimpft. Tierkliniken arbeiten auf Hochtouren. (Foto: Kirill Sykow/AGN Moskwa)

Fünf Verlierer

Immobilien

Gewöhnlich geht es auf dem Immobilienmarkt im Herbst nach der sommerlichen Stille aufwärts, aber derzeit ist keine positive Tendenz in Sicht. Die Mobilmachung ließ den Markt abstürzen. 46 Prozent weniger Neuwohnungen konnte das Moskauer Immobilienbüro Best Nowostroi vom 21. September bis 4. Oktober verkaufen. Die Resultate der anderen Akteure auf dem Markt sind nicht viel besser. Einige potenzielle Kunden sind ausgewandert und wollen nicht zurück. Die anderen sind nun in der Ukraine und können nicht lebend aus dem Nachbarland zurückkehren. Entsprechend schwer ist es derzeit, einen Immobilienkredit aufzunehmen. Und wer denkt heute an den Kauf einer Wohnung, wenn die kommunalen Verwaltungen in Moskau Luftschutzkeller sanieren und Wegweiser zu bombensicheren Räumen in Auftrag geben?

Autos

Bis 21. September war das größte Problem auf dem russischen Automarkt nicht die Nachfrage, sondern der Massenabzug der Hersteller, der Mangel an Fahrzeugen und die happigen Preise. Aber in den letzten Sommermonaten ging es den Autohändlern besser. Im Juli ist der Markt um 16,8 Prozent und im August um 20 Prozent gewachsen. Nach dem 21. September: Minus 30 Prozent. Die Mobilmachung hat auch diesen Markt erschüttert. Branchenexperten rechnen mit dem Absinken der Produktion für 2022 um 42 Prozent.

Tourismus

Die Mobilmachung verursachte unter anderem einen Exodus der zahlungskräftigen Kunden der Reisebüros. In den ersten Tagen nach der Verkündung der Einberufung sind die Preise für Flugtickets ins Ausland (dorthin, wo Russen ohne Visum hindürfen) und in die Grenzregionen durch die Decke gegangen. Darüber hinaus haben einige Militärkommissariate mitgeteilt, Männer, die den Einberufungskriterien entsprechen, dürfen ihre Wohnorte nicht verlassen. Branchenexperten sprechen von Verlusten von bis zu 50 Prozent und hoffen auf die Korrektur der Zahlen bis zu den Neujahresferien.

Fitnesszentren

Fitnessklubs stehen nach dem 21. September leer, schreiben einige Medien über die Lage in der Branche. Laut „RBK“ versuchen Kunden, ihre Klubkarten zurückzugeben und die Verträge auf ihre Verwandten umzuschreiben. Fitnesszentren schließen durchschnittlich um 25 Prozent weniger neue Verträge ab. Bei manchen großen Akteuren auf diesem Markt betragen die Verluste bis zu 50 Prozent. Noch schlimmer war es nur in den Pandemie-Zeiten.

Stripclubs

Wer seinen eigenen Körper nicht trainiert, möchte sich vielleicht an den Körpern der anderen ergötzen. Nein, das passiert nicht. Moskauer Stripclubs klagen über das Wegbleiben der Besucher. Seit Ende September kommen etwa 60 Prozent der Klientel nicht mehr in die Klubs. Ein Teil der Kunden ist ausgewandert. Anscheinend fliehen nicht nur Kunden, sondern auch Mitarbeiterinnen solcher Einrichtungen. Die Klubs sind derzeit bereit, die „erfahrenen und älteren Striptease-Tänzerinnen“ einzustellen.

Igor Beresin

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