„Die Kirche ist ein Ort für denkende Menschen“

Nach dem Weggang Dietrich Brauers aus Russland wurde Wladimir Proworow das neue Oberhaupt der Evangelisch-Lutherischen Kirche (ELK) in Russland. Das wurde schon im Juni bekannt. Im Oktober fand in Moskau die Synode statt, wo auch andere Formalitäten geregelt wurden. Nach den Sitzungen der Synode sprach die MDZ erstmals mit Wladimir Proworow darüber, was heute in der ELK vor sich geht.

Wladimir Proworow (Foto: Aleksej Orlow)

Wladimir Proworow  wurde am 4. Mai 1978 in Novokuibyshevsk, Oblast Samara, geboren. Von 1997-2000 studierte Proworow am Theologischen Seminar der ELK in Novosaratovka (in der Nähe von St. Petersburg). Im Jahr 2001 wurde er zum Pastor geweiht und ist bis heute als Pastor der Gemeinde in Uljanowsk tätig. Bis vor Kurzem war er stellvertretender Erzbischof der ELK und stellvertretender Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche im europäischen Teil des Russlands. Am 8. Juni wurde er in das Amt des Erzbischofs gewählt. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.


War für Sie die Wahl zum Erzbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche Russlands eine Überraschung?

Als die Vorbereitungen auf die außerplanmäßige Generalsynode liefen, wussten alle über das Ziel Bescheid – man brauchte einen Erzbischof und ein Kirchenoberhaupt, welches sich hier im Lande befindet. Im Hauptkirchenrat hatten sich alle auf meine Kandidatur geeinigt. Diese Entscheidung war keine Überraschung. Eine Überraschung ist das, worüber du dich freust, wovon du träumst. Ich wiederhole in letzter Zeit oft, dass ich in einer anderen Situation, zu einer anderen Zeit nicht an die Funktion eines Erzbischofs gedacht hätte. Und meine Familie hätte mich dabei auch nicht unterstützt. Als Erste wäre meine Frau dagegen gewesen. Wir haben ein geregeltes Leben in Uljanowsk, dort gehen die Kinder zur Schule, leben meine Freunde, die Verwandten wohnen nicht weit weg, eine schöne Gemeinschaft. Ich liebe diese Stadt und diese Menschen. Das ist der Ort, wo ich meinen Dienst leiste. Aber jetzt darf ich nicht an mich denken, an mein Wohlergehen. Wenn meine Wahl der Kirche helfen kann, ihrer Stabilität dienlich ist, dann nehme ich sie an.

Aus Ihrer offiziellen Biografie ist nirgendwo zu entnehmen, wie Sie Lutheraner wurden. Im Jahre 2000 traten Sie in das Seminar von Nowosaratowka ein, aber diesem Schritt gingen sicher andere Ereignisse voraus.


2000 hatte ich das Seminar schon beendet. 1995 begann ich theologische Kurse in St. Petersburg zu besuchen, die zweimal im Jahr je zwei Wochen lang stattfanden. Im Jahre 1997 begann ich als einer der ersten Studenten im Direktstudium am neu eröffneten Theologischen Seminar in Nowosaratowka meine Ausbildung. Vorher ging ich in Saratow, wo ich mit meinen Eltern lebte, aus Gesellschaft mit in die lutherische Kirche zum Gottesdienst. Die Kirche war nach einem Brand nicht wieder hergerichtet worden, aber es gab viele Gemeindemitglieder, der Gottesdienst wurde zum großen Teil in deutscher Sprache abgehalten. In dieser Zeit beendete ich die Schule und meine Vorstellungen von der Kirche lauteten, dass die “richtige Kirche“ die ist, wo du nichts verstehst. Kerzen, andächtige Gesichter und eine dir unbekannte Sprache. Das hatte ich wohl alles aus Abenteuerromanen über das Mittelalter. Ich war orthodox getauft, wo es auch eine spezielle Atmosphäre gibt, die Kirchensprache, die Messgewänder, die Liturgie. Ich kam in die lutherische Kirche und habe auch nichts verstanden, wollte aber bleiben.

Heute predige und bezeuge ich etwas anderes – die Kirche ist ein Ort, wo alles verständlich ist, wo die Predigt in einer Sprache erklingen soll, die die Mehrheit in der Gemeinde versteht. Man nicht von mystischen Handlungen und Ritualen getrieben wird. Die Kirche ist ein Ort für denkende lebendige Menschen.

Wie sieht jetzt der Gottesdienst in Uljanowsk aus?

Im Moment schaffe ich es, ein- bis zweimal im Monat an Gottesdiensten teilzunehmen. Aus der Zeit der Pandemie sind uns die Bibelstunden per Zoom erhalten geblieben. Das ist eine gute Möglichkeit, mehr Menschen zu erreichen. Zu uns gesellten sich Menschen nicht nur aus unserer Prop­stei, sondern auch aus anderen Regionen Russlands und sogar aus dem Ausland. Ich bemühe mich, diese Stunden selbst durchzuführen, bitte aber manchmal die Kollegen um Hilfe.

Meine Familie lebt weiterhin in Uljanowsk. Wir haben ausgemacht, dass die Kinder dort die Grundschule beenden. Sie sind jetzt in der vierten Klasse, und dann, wenn es Gottes Wille ist, werden wir einen möglichen Umzug nach St. Petersburg ins Auge fassen.

St. Petersburg? Ich dachte, die Residenz des Erzbischofs befindet sich in Moskau?

Das war nur bei Dietrich Brauer der Fall. Aber historisch befindet sich die Kathedrale des Erzbischofs in Petersburg. Das ist die Petri-Kirche am Newski-Prospekt.

Dietrich Brauer wurde der Titel “emeritierter Bischof“ verliehen. Erlaubt ihm diese Position eine Fortsetzung der Tätigkeit in der ELK Russlands?

Dieser Titel kann helfen, den Dialog und die Beziehungen zu den Partnern der ELK Russlands im Ausland zu fördern.

Stehen Sie mit ihm in Kontakt?


Das ist jetzt schwierig.

Worauf konzentriert sich jetzt die Aufmerksamkeit der ELK?

Zu jeder Zeit hat die Kirche ein Vorhaben – das Evangelium und das Wort Gottes zu predigen. Wichtige Zeiten zwingen zum Nachdenken darüber, was wichtig ist und was vergänglich. Viele Pfarrer spüren jetzt, dass die Schrift wieder lebendig wird. Das, was sich früher auf die Spezifik der Zeit der biblischen Ereignisse bezog, wird wieder aktuell. Die Pandemie wurde abgelöst durch die militärische Spezialoperation. Und das, was uns damals erschreckte, erscheint uns jetzt als Kleinigkeit. Aber wir leben weiter und das bedeutet, dass wir das Wort Gottes hören und seinen Willen in diesem Leben und in dieser Welt durch die Sorge um unsere Nächsten sichtbar machen sollen. Man darf nicht der Versuchung erliegen sich zu verschließen, nur für sich zu sein. Viele Menschen brauchen jetzt ein gutes Wort, einen Händedruck, eine Umarmung. Daran müssen wir denken.

Wie sehen die Beziehungen zu den deutschen Partnern aus?


Die Verbindung ist nicht abgerissen. Viele Gemeinden, die schon lange partnerschaftliche Beziehungen zu Deutschland haben, versuchen Pläne für die Zukunft zu machen.

Gibt es den Dialog mit den ukrainischen Partnern?

Wir gehörten bis dieses Jahr im Verband der Evangelisch-Lutherischen Kirchen der Internationalen Lutherischen Föderation an. Jetzt ist die ELK der Ukraine eigenständiges Mitglied der Föderation. Wir stehen in Kontakt, kennen die Probleme in den Gemeinden und Kirchen. Ich bin beeindruckt, wie in solch schwerer Zeit der größte Teil der Geistlichen sich im Land befindet und den Bedürftigen hilft. Nahezu in allen Gemeinden werden die Gottesdienste nicht unterbrochen. Bischof Pawel Schwarz ist ständig auf Reisen durch die Ukraine. Kürzlich fand der Rat der Bischöfe der ELK in Taschkent statt, wo auch unser Bruder aus der Ukraine anwesend war. Ich bin sehr froh, dass wir zusammen beten konnten.

Wofür haben Sie gebetet?


Dafür, dass es keinen Hass geben möge, dass er sich nicht in den Herzen der Menschen festsetzen kann.

Hilft die ELK Flüchtlingen?

Ja, wir helfen ihnen finanziell und verteilen humanitäre Hilfsgüter. Wir organisieren Kulturveranstaltungen für Flüchtlinge, sie nehmen an Gottesdiensten teil. Es gibt Gemeinden, die in diesem Bereich besonders aktiv sind, in Moskau, Samara, Togliatti, Woronesch.

Das Gespräch führte Ljubawa Winokurowa.

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