Die Erlebnisse von Professor Hammond in der Sowjetunion

Mal wird sie verteufelt, mal verklärt: die Sowjetunion. Der US-Historiker Thomas T. Hammond tat weder das eine noch das andere. Er wollte vor allem verstehen.

Ein neugierig beäugter Cadillac im Moskau des Jahres 1964 (Foto: Thomas T. Hammond)

Thomas T. Hammond bereiste die Sowjetunion von den 1950er bis zu den 1970er Jahren intensiv, brachte von dort mehrere Tausend Alltagsfotos mit. Hier eine kleine Auswahl davon und Auszüge aus Hammonds Artikel „Ein erster Blick auf die Sowjet­union“, der 1959 in der September-Ausgabe des „National Geographic Magazine“ erschien.

„Waren Sie eigentlich mal in Russland, Professor Hammond?“ Diese Frage hat mir jahrelang zu schaffen gemacht, während ich Vorlesungen zur russischen Geschichte an der University of Virginia hielt. Zwar hatte ich am Russischen Institut der Columbia-Universität studiert und eine Vielzahl an Büchern über die Sowjetunion gelesen. Aber solange ich das Land nicht mit meinen eigenen Augen gesehen hatte, mangelte es meinen Vorlesungen und Artikeln bis zu einem gewissen Grad an Autorität. Auf die häufige Frage antwortete ich: „Nein, ich war noch nie dort. Die sowjetische Botschaft lehnt meine Visumanträge ab.“ […]

1956 meinte es das Schicksal endlich gut mit mir. Damals öffnete die Sowjetunion ihre Tore für mehr und mehr Ausländer und es wurde leichter, ein Visum zu bekommen. Im Sommer 1956 ging es für mich als Reiseleiter einer Gruppe amerikanischer Touristen in den europäischen Teil Russlands. 1957 und 1958 bereiste ich das Land selbstständig.


Der Autor

Thomas T. Hammond (1920-1993) lehrte von 1949 bis 1991 Geschichte an der University of Virginia in den USA. Dort gründete er auch das Center for Russian, East European, and Eurasian Studies (CREES). Sein Forschungsschwerpunkt war die sowjetische Außenpolitik. Hammond schrieb mehrere Bücher über die Sowjetunion und andere Länder des sowjetischen Lagers. Er starb 1993 an den Folgen eines Schlaganfalls. Das Foto zeigt ihn 1964 am Ufer der Moskwa, wo das Baden damals noch nicht verboten war. Alle Fotos in diesem Beitrag stammen aus dem Hammond-Nachlass am University of Virginia Center for Russian, East European, and Eurasian Studies.


Jetzt kann ich meinen Studenten von 23 sowjetischen Städten erzählen, die ich besucht habe, von auf Russisch geführten Gesprächen mit Dutzenden sowjetischen Staatsbürgern, von Kolchosen, Fabriken, Universitäten, Pionierlagern und Kirchen. Ich hoffe, dieses riesige und komplizierte Land heute sehr viel besser zu verstehen und dieses Verständnis meinen Studenten vermitteln zu können.

Rundumbetreuung durch Intourist

Wie andere Russland-Besucher, so kam auch ich unter die Fittiche von Intourist, dem staatlichen Reiseveranstalter. Touristen stehen nur bestimmte Städte offen. Doch wenn ich dort angekommen war, konnte ich mich üblicherweise frei bewegen und mich mit den Menschen, denen ich auf der Straße begegnete, unterhalten. 

Selten hatte ich den Eindruck, dass mir jemand folgte. Das mag daran gelegen haben, dass die Mitarbeiter der Staatssicherheit ihr Handwerk verstanden. Es war aber ohnehin nicht schwer, sich an meine Fersen zu heften. Ich wohnte in Intourist-Hotels, reiste in Begleitung einer Intourist-Fremdenführerin und hatte einen von Intourist bezahlten Fahrer.

Auf meiner jüngsten Reise legte ich den Weg von Prag nach Moskau mit der Tu-104A zurück, einem nagelneuen sowjetischen Düsenjet, den mir die Russen stolz vorführten. In Moskau gab es ebenfalls viel Neues, mit dem man sich rühmen konnte – die Russen sind immer bemüht, vor Ausländern gut dazustehen. Eine dieser Neuheiten war das 30-stöckige Hotel Ukraina mit einem Restaurant im obersten Stockwerk und einer Spitze, gekrönt vom obligatorischen roten Stern.

„Ne rabotajet“

Mein Hotelzimmer befand sich im 27. Stock und bot eine herrliche Aussicht auf die Stadt. Es gab auch einen Fernseher. Als ich ihn einschaltete, funktionierte aber nur der Ton, nicht das Bild. Aha, dachte ich mir, ne rabotajet, wie so vieles in Russland. Doch in diesem Fall hatte ich mich selbst an der Nase herumgeführt. Der Sende­betrieb begann an jenem Tag erst um 19 Uhr. Die einzige Sendung, die ich zu sehen bekam, war die Erörterung der Produktivitäts­steigerung in der Landwirtschaft. 

Rote Linien: Maidemonstration 1964 in Moskau. Links das Hotel Moskwa, rechts der Kreml. (Foto: Thomas T. Hammond)

Sobald ich in Russland angekommen war, sorgte Intourist dafür, dass ich auf meiner gesamten Reise begleitet wurde. Wie üblich bei Intourist, war die Begleitung weiblich. Meine Reiseführerin hieß Tamara, war stämmig und von typisch russischem Äußeren. Die 35-jährige Tochter des Direktors eines Moskauer Großbetriebs wurde nie müde, die Vereinigten Staaten zu kritisieren und die Vorzüge des sowjetischen Systems zu preisen. Da sie alles nur von einer Seite sah und zudem lauter und schneller als ich sprach, kam kein wirklicher Dialog zustande. Wesentlich interessanter und nützlicher waren die Gespräche mit Zufallsbekanntschaften, die nicht versuchten, mich zur kommunistischen Partei zu bekehren.

„Will Amerika Krieg?“

Schwerlaster auf der Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft (WDNCh) in Moskau (Foto: Thomas T. Hammond)

[…] Ich habe mit den verschiedensten Menschen gesprochen und ungeachtet der aktiven antiamerikanischen Propaganda der Regierung fast nie Feindseligkeit festgestellt. […] Eines Abends bin ich mitten in Kiew mit einem Mann ins Gespräch gekommen. Zwanglos diskutierten wir über die USA. Passanten hielten inne, um zuzuhören, und bald war ich von 50 oder 60 Menschen umringt. Wir verstopften den Fußweg an einer der zentralen Straßen, was dem Verkehrsposten an der Kreuzung überhaupt nicht gefiel. Deshalb bat ich meine Zuhörer darum, unsere Versammlung aufzulösen. „Nein, nein, wir wollen mit Ihnen reden“, protestierten sie. Wie ein Star, der von Autogrammjägern bestürmt wird, lenkte ich die Menge in ein angrenzendes Gässchen, während mich die Leute mit Fragen bombardierten.

„Lebt man in Amerika besser als hier?“

„Wie viel verdienen Sie?“

„Wie hoch ist der Durchschnittslohn eines Arbeiters?“

„Was kostet ein amerikanisches Auto?“

„Gibt es bei Ihnen eine Sozialversicherung?“

Auch Fragen von Krieg und Frieden und zur amerikanischen Außenpolitik wurden gestellt.

„Will Amerika Krieg?“

„Warum können Amerika und die Sowjetunion keinen Abrüstungsvertrag unterschreiben und die Kriegsgefahr bannen?“

Viele Fragen zeugten davon, dass diese Sowjetbürger gern mal ins Ausland reisen würden, was allerdings den Wenigsten vergönnt war. Als ich ungefähr 20 Länder aufzählte, die ich bereits besucht hatte, staunten sie nicht schlecht. „Schön, dass Sie sich unser Land anschauen wollen“, sagte eine junge Frau. „Schicken Sie noch mehr Amerikaner hierher, damit wir mit ihnen reden können und sich unsere Völker besser verstehen. […]

„Beeznis“ vor dem Hotel

Junge Leute auf einem vom Autor nicht näher bezeichneten Foto, offenbar aus dem Jahr 1964 (Foto: Thomas T. Hammond)

In Moskau, wo Ausländer keine Seltenheit sind, werden sie wohl keine solchen Menschenaufläufe produzieren. Allerdings erwecken sie aus anderen Gründen Interesse. Vor dem Eingang zu meinem Hotel postierten sich Jungen und baten um Kaugummi, der in der Sowjet­union weder hergestellt noch verkauft wird. Oder sie wollten Abzeichen, Embleme und Medaillen mit mir tauschen, die sie sammeln und an ihre Kopfbedeckungen heften.

Einige ältere Jungs werden zu „beeznis men“. Der erste von dieser Sorte, mit dem ich Bekanntschaft schloss, war vielleicht 18 Jahre alt, trug ein weißes Nylonhemd und Schuhe mit dicker Gummisohle.

 – „Wanna do a leetle beeznis?“, fragte er auf Englisch. (Anm. d. Red.: Der Autor gibt die gebrochene Form des Englischen wieder, in der er offenbar angesprochen wurde.)

– „Was für ein Geschäft ist das denn?“

– „Wanna sell suit, shirt, tie, shoes? Anyteeng you got, I buy eet.“

– „Sorry, aber ich brauche die Kleidung, die ich am Leib trage.“

– „Maybe you got electric razor, jazz records, photo apparat, nylon stockeengs. Anyteeng. I pay much money.“

– „Wozu brauchst du das denn?“

– „Maybe I keep, maybe I sell. Make money.“

– „Werden solche Sachen denn nicht auch in der Sowjetunion hergestellt?“

– „They make, but no good. You know Philips electric razor? They make copy in Kharkov. Eet look the same, but not good like Philips. Eet scratches. You see this nylon shirt? Made in U.S.A.“

Diesem jungen Menschen und vielen weiteren antwortete ich: „Tut mir leid, ich verkaufe nicht.“

Puschkins Moskau damals und heute

„Moskau … wie viel sich in diesem Klang für ein russisches Herz vereint“, schrieb der Dichter Alexander Puschkin vor mehr als einem Jahrhundert. Von der Stadt, die er beschrieb, ist heute kaum etwas übrig. Er würde den Kreml, die Basilius-Kathedrale und das runde, steinerne Podest, wo sich einst das Beil des Henkers hob und senkte, noch erkennen. Doch die Holzhäuser an den Straßen verschwinden. An ihrer Stelle wachsen vielgeschossige Häuser in die Höhe. Neue Wohnbauten lösen die alten ab. Moskau mit seinen über fünf Millionen Einwohnern ist dermaßen dicht besiedelt, dass die meisten Familien nur ein Zimmer zum Leben haben. Einzig Tokio, London, New York und Shanghai haben noch mehr Einwohner.

Die Moskauer Gorki-Straße (heute Twerskaja) in den 1970er Jahren (Foto: Thomas T. Hammond)

Über die Bürgersteige im Stadtzentrum ergießt sich ein chaotischer Menschenstrom. Offiziere der Roten Armee in ihren strahlenden Uniformen mischen sich mit Arbeitern, die grau und unauffällig gekleidet sind, und Tausende exotische Gäste – Usbeken, Tadschiken, Turkmenen – zeugen von den geografischen Dimensionen der Sowjetunion. Die allgegenwärtigen Delegationen aus der Mongolischen Republik und dem Roten China erinnern den Beobachter an die Nähe zu Asien. […]

Ich begab mich zum neuen Gebäude der Moskauer Universität. Wie eine Hochzeitstorte auf einem Tablett, thront es am Steilufer der Moskwa. Das „Zen­trale Hochhaus“ – von Wolkenkratzern spricht man in Russland nicht – beherbergt mehr als 1000 Seminarräume und Hörsäle, Laboratorien und Konzerthallen, Mensen, Bibliotheken und ein Schwimmbad.

(Fortsetzung folgt)

Übersetzung aus dem Russischen: Tino Künzel

Das Heft 07/1959 des „National Geographic Magazine“, in dem der Beitrag von Thomas T. Hammond erschien. In der Zeitschrift war es die erste Veröffentlichung über die Sowjetunion seit dem Zweiten Weltkrieg.
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