Der San Francisco – Moskau Friedensmarsch

Im Jahr 1961 entschloss sich eine Gruppe entschiedener Pazifisten zu Fuß von San Francisco bis nach Moskau zu laufen, um für einseitige atomare Abrüstung zu demonstrieren – in jedem einzelnen der auf dem Weg liegenden Länder. Einer von ihnen war Dr. Reiner Steinweg. Nach den Erfahrungen des Friedensmarsches widmete er sein Leben der Friedensarbeit.

Fast angekommen: der Friedenmarsch vor den Toren Moskaus / Bradford Little

Reiner Steinweg, wie kam es zu dem langen Marsch von San Franzisco nach Moskau?

Die Zeit, in der ich zu studieren anfing, war die Zeit der großen oberirdischen Atom-Versuche Amerikas, Frankreichs, Englands und der Sowjetunion. Wir wussten, dass der Fall-out dieser Versuche Leben unmittelbar bedrohte, er gefährdete zum Beispiel das Leben der Säuglinge. Deshalb wurde in Amerika das „Committee for Non-Violent Action“ (CNVA) gegründet, um mit dem ganzen Instrumentarium, das Gandhi entwickelt hatte, dagegen vorzugehen. Dazu gehörte, illegal in die Werften einzudringen, in denen die Atom-Unterseebote gebaut wurden, und mit den Arbeitern zu diskutieren. Da hieß es dann immer wieder: „Das ist ja schön und gut, aber ihr müsst zu den Russen gehen, die bedrohen den Weltfrieden, wir verteidigen uns ja nur, wir machen ja gar nichts Böses, geht zu den anderen.“ Daraus entstand die Idee, das wirklich einmal zu machen.

Wo haben Sie sich dem Friedensmarsch angeschlossen?

Ich studierte damals in Hamburg und wurde vom Begründer der westdeutschen Ostermärsche, gegen Atomwaffen, Konrad Tempel, gefragt, ob ich bereit sei, an einem internationalen Demons­trationsmarsch nach Moskau teilzunehmen. Das war damals kaum vorstellbar, weil der Eiserne Vorhang als undurchdringlich galt. Aber da war eine große Entschiedenheit: „Es ist uns so wichtig, diesem Wahnsinn Einhalt zu gebieten, dass wir bereit sind, dafür unsere bürgerliche Karriere aufs Spiel zu setzen. Denn es geht um das Überleben der Menschheit.“
Der Gruppe war gerade die Einreise nach Frankreich verboten worden, sie war mit einem Schiff nach Le Havre gefahren, einige Teilnehmer waren trotz des Verbots ans Ufer geschwommen und die französische Polizei hatte sie wieder zurück aufs Schiff geschafft, es war ruppig zugegangen.

Ich war zu diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt und habe mich nach Semesterende Anfang Juli zusammen mit drei weiteren Deutschen – eine war schon von Amerika aus mitgegangen – dem Marsch in Osnabrück angeschlossen. Insgesamt waren neben den 17 Amerikanern (zu denen die Mutter des damaligen Schachweltmeisters Bob Fischer gehörte) ebenso viele Menschen aus sechs europäischen Ländern beteiligt.

Die Aufnahme in Westdeutschland war ziemlich feindselig. Es wurden Leute verhaftet. Uns wurde eine Kamera abgenommen. Man untersagte uns, in Rufweite an englischen oder amerikanischen Kasernen vorbeizugehen. Daran haben wir uns nicht gehalten, wir übten erfolgreich zivilen Ungehorsam.

Die Zeit des Kalten Krieges war von zunehmender politischer Hysterie geprägt. Wir wurden als Kommunisten beschimpft, was wir nun wirklich nicht waren, wir waren Pazifisten. Oder als Vaterlandsverräter. Bestenfalls noch als nützliche Idioten der Machthaber in Moskau. Auch in Deutschland sagte man uns, wenn wir einseitige Abrüstung forderten: „Geht doch nach drüben!“ Dahaben wir geantwortet: „Das tun wir gerade.“

Wie sind Sie durch den Eisernen Vorhang in die DDR gekommen?

Abraham J. Muste, der als damals bereits 76-Jähriger nicht mehr selbst mitgehen konnte, hatte mit den Regierungen in Moskau, Warschau und Ostberlin verhandelt. Die radikalen Aktionen des CNVA in den USA hatten dort Eindruck gemacht. So war man bereit, eine nicht-kommunistische Gruppe mit ganz anderen Positionen im Ostblock demonstrieren zu lassen. In Helmstedt-Marienborn haben wir die Grenze überschritten und sind quer durch die DDR auf Berlin zugegangen. Das war nicht so einfach: Die Menschen in der DDR wagten kaum, mit uns zu reden. Mitglieder der FDJ, die Jugendorganisation der DDR, fuhren hinter uns her und sammelten unsere Flugblätter wieder ein. Eine Ausnahme gab es, einen Studenten in Dresden, der schloss sich für eine Weile an und sagte: „Mir ist das wichtig, es muss einseitige Abrüstung geben, auch von Seiten der DDR.“ Er tat das unter Risiko und das war ihm bewusst.

Sie waren im Hochsommer 1961 in Berlin?

Wir kamen genau am Abend des 13. August 1961 an der Grenze von Groß-Berlin an. Man teilte uns mit: „Es gibt eine ernsthafte internationale Krise. Ihr könnt den Marsch hier nicht fortsetzen, wir transportieren euch an die Oder“, also an die polnische Grenze. Genau am 13. August hatte der Bau der Berliner Mauer begonnen. Die DDR-Behörden hatten Angst, weil sie nicht wussten, wie die Bevölkerung reagiert, dass wir irgendeinen Wirbel da hineinbringen könnten. Wir sagten: „Dann können wir den Marsch nicht fortsetzen, wir haben im Westen versprochen, dass wir die ganze Strecke zu Fuß gehen. Aber wir gehen auch nicht freiwillig zurück.“ Da wurden wir in einen Bus gezerrt, wir wurden nach Marienborn zurückgefahren und zwischen den Grenzübergängen rausgesetzt. Und damit waren wir wieder im Westen. Sofort kamen Reporter vieler Zeitungen und des Rundfunks, die vorher kaum über uns berichtet hatten. Unser Rausschmiss war Wasser auf die Mühlen des Kalten Krieges – genau das Gegenteil von dem, was wir erreichen wollten.

Abraham J. Muste, der geistige Leiter der Marschgruppe, war sofort zur Stelle. Er sagte: „Das ist eine Patt-Situation. Ihr seid in Frankreich rausgeflogen, jetzt aus der DDR, Ost und West sind quitt. Kein böses Wort über die DDR!“ Diesen weisen Rat haben wir befolgt. Dann hat Muste wieder verhandelt und wir konnten – mit Ausnahme eines deutschen Studenten, der sich in der DDR missliebig gemacht hatte – den Marsch in Polen fortsetzen.

Wie war es 16 Jahre nach dem Krieg als Deutscher in Polen?

Ich hatte zum ersten Mal den Eindruck, in einem freien Land zu sein. Die Menschen verhielten sich völlig anders als in der DDR oder in Westdeutschland. So war es mir zum Beispiel zunächst nicht möglich, unsere Flugblätter anzubringen. Die Menschen drehten sich reihenweise weg, weil sie annahmen, wir seien Kommunisten. Wenn wir aber eine Ansprache hielten – wir hatten eigene Übersetzer– und unsere Position darlegten, gab es anders als in der DDR sofort lebhafte Diskussionen und eine sehr freundliche Aufnahme.

In den vielen Gesprächen, die ich in Polen geführt habe, kam spätestens nach einer halben Stunde heraus, dass die Gesprächspartner entweder den Vater, den Großvater, den Onkel oder ein anderes Familienmitglied in diesem deutschen Eroberungskrieg oder im KZ verloren hatten. Es gab keine Familie, die nicht betroffen war. Und gleichzeitig war kein Hass zu spüren, nur tiefe Trauer. Das war sehr berührend.

Wir konnten uns in Polen frei bewegen – wir haben sogar vor dem Verteidigungsministerium demonstriert.

Was verlangt Ihr von uns: Wollt Ihr dass Eure Soldaten wieder kommen und unsere Kinder wieder ins offene Feuer werfen?

Waren Sie in Auschwitz?

Ja, auf unseren Wunsch hin, nicht dass man uns gedrängt hätte. Das war ein tiefer Einschnitt für jeden von uns: die Erde aufzuheben und die Knochensplitter zu sehen, die da aus dem Schornstein der Krematorien gewirbelt worden waren, die Berge von abgeschnittenen Frauenhaaren, die engen Baracken… Ich kann mich erinnern, wie der Anführer der Gruppe, Bradford Lyttle, immer wieder verzweifelt ausrief: „What happened to the Germans!?“ Was ist mit den Deutschen passiert, dass sie so was machen konnten? Da habe ich noch tiefer begriffen, in welches unmenschliche System mein Vater verstrickt war, der schon vor 1933 in die NSDAP eingetreten, ein überzeugter Rassist und Nationalsozialist war. Er muss als Personaldezernent der deutschen Reichsbahndirektion Breslau gewusst haben, wohin all die Judentransporte fuhren, die durch Schlesien nach Osten gingen. Für mich war klar: Was immer in meinen persönlichen Kräften steht, werde ich tun, damit so etwas sich nicht wiederholen kann.

Ansonsten war es wunderschönes Wetter – der goldene polnische Herbst, wie sie das nennen – ganz einfach gesagt, hatten wir dann schönstes Wanderwetter bis an die russische Grenze.

Wie hat Russland Sie empfangen?

Als wir die Grenze überschritten, in Brest Litowsk, kamen wir in einen kleineren Ort, Kobryn. Da war eine riesige Menschenmenge auf den Beinen, vielleicht 10 000 Menschen, so etwas hatte ich noch nicht erlebt. In den drei Wochen in der Sowjetunion haben wir täglich vor einer Menge sprechen können, die mindestens 200 Menschen umfasste, manchmal 500 oder 600 – jeden Abend. Es wurden uns keinerlei Auflagen gemacht, was wir reden durften, aber der Unterschied zu Polen war, dass es hitzige Diskussionen gab. Als wir einseitige Abrüstungsschritte auch von der Sowjetunion forderten, sprang ein Mann auf und schrie: „Wollt Ihr, dass die deutschen Soldaten wiederkommen und wie damals unsere Kinder ins offene Feuer werfen?“ Das ist mir ziemlich in die Knochen gefahren.

Als ich an dem Abend nach der ersten größeren Diskussion vor das Gebäude trat, war der ganze Platz gelb von unseren futzelklein zerrissenen Flugblättern. ‚Ob Du hier heile wieder rauskommst?‘ dachte ich. Und zwar nicht, weil die Behördenvertreter uns gegenüber feindselig gewesen wären – die waren redlich bemüht, uns in der Diskussion Gehör zu verschaffen und haben uns immer gut behandelt. Es waren die einfachen Leute, die so aufgebracht über das waren, was wir ihnen zumuteten.

Man erklärte uns, dass wir wegen des bevorstehenden Winters am 3. Oktober in Moskau zu sein hätten. Ich vermute, weil danach der jährliche Parteitag stattfand und da wollte man uns vielleicht nicht dazwischen haben. Eine Woche lang gingen wir bis zu 60 Kilometer am Tag. Danach bot man uns einen Kompromiss an, dass ein Teil der Gruppe tags, ein anderer nachts gehen könne, so das wir als Gesamtgruppe unser im Westen gegebenes Versprechen halten konnten, alles zu Fuß zu gehen. Der jeweils andere Teil der Gruppe wurde mit dem Bus nachgefahren.

Am 3. Oktober kamen wir in Moskau an. Wir haben aus Respekt vor den russischen Gefühlen in der Nähe von Lenins Sarg auf dem Roten Platz eine Schweigedemonstration abgehalten, mit unseren Schildern in russischer Sprache. In den westdeutschen Medien wurde daraus gemacht, wir hätten „auf dem Roten Platz Redeverbot“. Die Frauen wurden zu Nina Chruschtschova eingeladen und in der Lomonossow-Universität gab es eine scharfe, vierstündige Diskussion.

Menschen greifen nach Flugblättern des Friedensmarsches auf dem Roten Platz / Bradford Little

Noch heute sind vielen Russen aus den Erzählungen ihrer Großeltern einige deutsche Worte bekannt: „Hände hoch“, „Schneller“ und „Fass“.

Die Sowjetunion hat 20 Millionen Menschen verloren und ganze Landstriche sind verwüstet worden. So etwas wirkt viele Jahrzehnte nach. In dem Moment, wo der Feind wieder als militärische Bedrohung am Horizont ist – und das wird ja heute mit den Siegesfeiern auch kultiviert in Russland – da ist die Erinnerung präsent: „Es kommt ein militärisch sehr versierter Gegner und überrennt uns.“

Dagegen kann man nur Erfahrungen setzen, in denen Formen des Widerstands wirkungsvoller waren, die nicht zu diesem Ausmaß von Zerstörung geführt haben. Ich bin überzeugt, wenn Russland Hitler gewaltfrei widerstanden hätte, hätte Hitler das keine zwei oder drei Jahre durchhalten können. Wenn da organisierter, bewusster, gewaltfreier Widerstand gegen die vergleichsweise kleine deutsche Besatzungsarmee stattgefunden hätte –, wäre sie über kurz oder lang machtlos gewesen, sofern der Widerstand wirklich energisch gewaltfrei stattgefunden hätte, auch wenn die Besatzungsmacht mit Terror gearbeitet hätte. Gegen eine so große Bevölkerung wie die russische hätte sie keine Chancen gehabt, ihre Befehle durchzusetzen.

Wie meinen Sie das? Das Land, in dem ich lebe, wird von einer Armee überrannt und ich soll mir vorstellen, dass es effektiver wäre, gewaltfreien Widerstand zu leisten, statt mit der Waffe zurückzuschlagen?

Ein solches Land muss ja verwaltet werden. Man besetzt ein Land, weil man davon profitieren, zum Beispiel Öl, Kohle oder Getreide heimbringen will. Wenn das nicht zu verwalten ist, weil unentwegt Widerstandsaktionen stattfinden, die untergründig oder als öffentliche Aktion die Verwaltung blockieren, lahm legen, unmöglich machen – dann kann man das ein oder zwei Jahre versuchen und viele Menschen ins Gefängnis werfen und töten. Aber wenn der Widerstand entschieden und stark bleibt, scheitern diese Versuche.

Das heißt, ein Land, das angegriffen wird, sollte sich nicht wehren, sondern sich überrennen lassen und dann zivilen Widerstand leisten?

Ja, es gibt enorm viele Möglichkeiten, wie man eine oktroyierte Verwaltung zur Verzweiflung bringen kann.

Ist das nicht Wahnsinn – wenn Menschen mit Waffen einmarschieren und ich unmittelbar bedroht bin und ich wehre mich nicht? Der Mythos von „wir müssen uns verteidigen“ ist nicht relevant?

Der Mythos „Wir müssen uns militärisch verteidigen“ ist der Mythos der letzten 5000 Jahre. Wenn heute beide Seiten atomare und chemische Waffen einsetzen, kann es keinen Sieger mehr geben, sondern nur Zerstörung in einem gigantischen, nie dagewesenen Ausmaß.

Wir kennen es doch, aus Hiroshima.

Ja und das, was da eingesetzt wurde, waren Peanuts im Vergleich zu dem, was heute zur Verfügung steht. Man braucht nur an Fukushima oder an Tschernobyl zu denken, um zu ahnen, was passiert, wenn heute ein Krieg zwischen Atommächten mit der Konsequenz geführt wird, wie die Kriege früher in Europa geführt wurden. Da bleibt nicht nur kein Stein auf dem anderen, sondern da ist über weite, weite Flächen und für Jahrhunderte kein Leben mehr möglich.

Wenn man der Unterlegene ist – das war Russland ja zunächst einmal, denn Stalin war auf diesen Überfall nicht vorbereitet – dann zahlt man bei militärischem Widerstand unglaublich drauf. Auch bei nicht-militärischem Widerstand gibt es Opfer, da werden Menschen eingesperrt, gequält und auch getötet, aber bei Weitem nicht so viele, wie bei militärischem Widerstand.

Der Punkt ist, dass Leute, die sich mit der Waffe verteidigen, das mit dem Gefühl tun: „Ich muss meine Ehre verteidigen und mein Vaterland.“

Geschichtliche Ideen brauchen einen langen Atem und einen langen Weg und wenn sich davon etwas umsetzt, hat das immer viele Quellen. Ich denke, wir waren eine davon.

Aber kann es nicht sein, dass es viel tiefer liegt, dass es das Gefühl gibt, im Angesicht der Lebensgefahr nicht passiv zu sein, sondern das eigene Leben aktiv zu schützen?

Ja. Es geht ja auch nicht um passiven, sondern um phantasievollen, jeden Tag anders formierten aktiven Widerstand, nur ohne Gewalt.

Das heißt also, dass man nicht machtlos ist, wenn man sich nicht verteidigt?

Man muss sich verteidigen. Aber man muss sich anders verteidigen. Denn die Waffen haben die Tendenz zur Eskalation. In Norwegen zum Beispiel, im Widerstand gegen Hitler, sollten die Lehrer des Landes für das Quisling-Regime eine Erklärung unterschreiben und gleichgeschalteten Unterricht machen. Das Quisling-Regime war eine faschistische Regierung auf den Bajonetten der deutschen Besatzungsmacht. Die Lehrer haben gesagt: „Nationalsozialistischen Unterricht hier, das machen wir nicht.“ Da sind sie alle in ein Lager transportiert worden. Natürlich gab es auch Tote. Aber obwohl das Quisling-Regime die volle Unterstützung der Nationalsozialisten hatte, musste es im Endeffekt nachgeben. Es ist nicht so, dass man nichts tun kann, selbst gegen solche Terror-Regime par excellence wie es der Nationalsozialismus war. Der erfolgreiche Widerstand gegen die Deportation der Halbjuden aus Berlin im Frühjahr 1943, die Göbbels befohlen hatte, ist ein anderes Beispiel.

Gibt es etwas, das Menschen gemeinsam haben, die selbst im Gulag und im KZ noch im Angesicht des sicheren Todes Widerstand geleistet haben? Ist es dann nicht egal ob mit Gewalt oder ohne?

Die Frage, ob Menschen etwas gemeinsam haben, die noch unter den extremsten Bedingungen Widerstand leisten, lässt sich ohne empirische Untersuchung nicht sicher beantworten. Ich denke, es ist vielleicht Selbstbewusstsein im Sinne des „aufrechten Gangs“: zu den humanistischen Werten und zu sich selbst zu stehen, auch dann, wenn das den eigenen Tod bedeutet. Aber gerade dann ist es nicht egal, ob mit oder ohne Gewalt. Denn die Kampfmethoden wirken noch Jahrzehnte nach Beendigung des Kampfes nach.

Natürlich habe ich großen Respekt vor allen, die in welcher Form auch immer Widerstand gegen Faschismus und stalinistischen Terror geleistet haben. Aber meine Sympathie ist ganz entschieden auf der Seite von James Graf Molke, der bis zu seiner Hinrichtung im Januar 1945 an der Strategie der Gewaltfreiheit als langfristig produktiverer Form der Veränderung der Verhältnisse festgehalten hat.

Sie haben Ihr Leben lang daran geforscht – wie können Friedensfähigkeiten gelernt werden?

Die Vorbereitung auf gewaltfreie Überwindung von Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen, die das Leben der Menschheit gefährden, kann zum Beispiel über eine systematische Beschäftigung mit dem Denken der großen Vorbilder erfolgen – Thoreau, Tolstoi, Gandhi und Martin Luther King.

Aber auch durch ein Training mit dem Erfahrungswissen, das Menschen in Situationen gewaltfreien Widerstands gesammelt haben. Es gibt Haltungen, die eine Chance haben, das „versteinerte Herz“ des Gegners wieder zum Schlagen zu bringen.

Dafür habe ich mehrere Methoden entwickelt, unter anderem das Lehrstückspiel mit Textvorlagen von Bertolt Brecht. Es geht darum, probeweise Erfahrungen zu machen, mit welcher persönlichen Haltung man Veränderungen in scheinbar aussichtslosen Situationen bewirken kann.

Und der lange Marsch für den Frieden 1961 – hat er die Welt verändert?

Kurzfristig nicht. Aber wir haben ein Argument in der Auseinandersetzung im Westen gewonnen, wenn man uns sagte: „Geht doch nach drüben!“ konnten wir antworten: „Da waren wir schon!“ Langfristig möchte ich es mit einer Geschichte beantworten: Eines Tages klingelte es 1991 bei einem Mitglied der Marsch-Gruppe in New York. Ein Russe brachte ihm ein Teilchen einer demontierten sowjetischen Atomrakete und sagte: „Wir haben gemacht, was ihr uns vor 30 Jahren vorgeschlagen habt.“ Geschichtliche Ideen brauchen einen langen Atem und haben einen langen Weg und wenn sich davon etwas umsetzt, hat das immer viele, viele Quellen und ich denke, wir waren eine davon.

Das Gespräch führte Fabiane Kemmann

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