Der Denkmalsfall von Riga

Ende August wurde das wohl bekannteste sowjetische Kriegsdenkmal in Lettland abgerissen. Dort beging vor allem die russische Minderheit jedes Jahr am 9. Mai die Befreiung Rigas von deutscher Besatzung im Jahr 1944. Doch gerade in der Sicht auf die Sowjetvergangenheit ist die lettische Gesellschaft tief gespalten.

Das Siegesdenkmal in Riga Ende August (Foto: Twitter/Martins Stakis)

Sieben Stunden wurde der 79 Meter hohe Obelisk mit Presslufthämmern bearbeitet, bis er in ein Wasserbecken kippte. Damit war vom Siegesdenkmal in Riga nach drei Tagen nichts mehr übrig. Zuvor hatten Baumaschinen bereits zwei andere Teile des Denkmals – eine Figurengruppe aus drei Bronzesoldaten und eine Mutter-Heimat-Skulptur – zu Fall gebracht. Das Gelände im Siegespark der lettischen Hauptstadt war dafür weiträumig abgesperrt worden. Umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen sollten mögliche Zusammenstöße verhindern. Eine beantragte Protestaktion der „Russischen Union Lettlands“ erhielt keine Genehmigung.

Der Abriss markiert eine neue Phase im Bestreben Lettlands, sich weiter von Russland abzugrenzen. Das 1985 fertiggestellte Siegesdenkmal – mit vollem Namen „Denkmal für die Kämpfer der Sowjetarmee – die Befreier des sowjetischen Lettlands und Rigas von den deutsch-faschistischen Invasoren“ – ist nur das prominenteste von 69 sowjetischen Kriegsdenkmälern, die bis 15. November verschwinden sollen. So hat es die Regierung Mitte Juli beschlossen.

„Eure Zeit ist abgelaufen“

Ein „Symbol der sowjetischen Okkupation“ sei beseitigt worden, kommentierte der lettische Außenminister Edgars Rinkēvičs auf Twitter den Denkmalsfall von Riga. „Wir schließen eine weitere schmerzvolle Seite der Geschichte und schauen einer besseren Zukunft entgegen.“

Verteidigungsminister Artis Pabriks schrieb, es handele sich um einen „Wendepunkt“, eine Chance, sich der Demütigungen der Vergangenheit zu entledigen und die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Wer vom rechten Weg abgekommen sei, könne nun zurückfinden, „meine Hand ist weiter ausgestreckt“, so Pabriks. Diejenigen jedoch, die dem Denkmal nachtrauerten – „eure Zeit ist abgelaufen“, heißt es in dem Tweet auf Lettisch.

Der Parlamentsabgeordnete Jānis Dombrava twitterte, ein Wahrzeichen des „Reichs des Bösen“ sei zerstört worden. „Ich gratulieren allen zu diesem Sieg.“ Ex-Außenministerin Sandra Kalniete, die heute dem Europaparlament angehört, sprach von einem „Durchbruch“. Anstatt sich ständig bang umzuschauen und sich zu fragen, was wohl Russland sagen wird, „tun wir, was wir für richtig halten, und das ist ein richtiger Schritt“.

Kalniete wurde 1952 in Sibirien geboren, wohin ihre Eltern und Großeltern in der Stalinzeit wie Zehntausende andere Letten deportiert worden waren. Erst 1957 durfte die Familie nach Hause zurückkehren. Kalnietes 2001 erschienenes autobiografisches Buch trägt den Titel „Mit Tanzschuhen im sibirischen Schnee“. 2004 sorgte ihre Eröffnungsrede auf der Leipziger Buchmesse für ziemlichen Wirbel, weil sie dabei sagte, Nazismus und Kommunismus seien „gleichermaßen verbrecherisch“.

Meinungen gehen weit auseinander

Über den Umgang mit sowjetischen Denkmälern wird in Lettland schon lange gestritten. Es geht dabei um die Deutungshoheit bei Begriffen wie „Befreiung“, „Okkupation“ und „Kollaboration“, um die Frage, wie viel Unglück das Glück des Sieges mit sich brachte und in welchem Maße die Opfer auch Täter waren. Das ist schon an sich eine schwierige Materie, doch sie rüttelt auch noch an Geschichtsbildern, die sich je nach Zugehörigkeit zur lettischen Mehrheit oder zur russischen Minderheit stark unterscheiden. Jeder vierte Einwohner Lettlands ist russischstämmig, das ist der höchste Anteil in den drei baltischen Staaten. Der Osten des Landes, darunter die zweitgrößte lettische Stadt Daugavpils, ist sogar mehrheitlich russisch. In Riga stellen die Russen ca. 38 Prozent der Einwohner.

Wie gespalten die Gesellschaft im Hinblick auf Lettlands sowjetische Geschichte und ihre Nachwirkungen ist, zeigt eine Anfang Juli veröffentlichte Umfrage des Meinungsforschungsinstituts SKDS. Den Abriss des Siegesdenkmals in Riga befürworteten demnach 49 Prozent, 35 Prozent sprachen sich dagegen aus. Während der Anteil der Befürworter bei denen, die zu Hause Lettisch sprechen, 72 Prozent betrug, waren es unter den russischen Muttersprachlern nur 9 Prozent. Dass der 9. Mai für sie mit positiven Emotionen verbunden ist, sagten umgekehrt nur drei Prozent der Lettisch-, aber 62 Prozent der Russischstämmigen.

Empörung auf beiden Seiten

Für die einen war das Siegesdenkmal ein Fremdkörper, ein Zeugnis aufgezwungener Erinnerungskultur, ein Erbe, das nicht in die heutige Zeit passte. In Lettland sei kein Platz für ein „Denkmal für die Okkupanten“, so etwas entspreche nicht „unseren Werten“, sagte der lettische Präsident Egils Levits unlängst im Fernsehsender LTV1.

Nicht minder symbolisch war das Siegesdenkmal aber auch für die vielen, die dort traditionell am 9. Mai der Rückeroberung Rigas durch die Rote Armee – nach über drei Jahren deutscher Besatzung – gedachten, voller Stolz und Dankbarkeit. In diesem Jahr hatten die Behörden die Feierlichkeiten verboten. Nach Polizeiangaben kamen trotzdem mehrere Zehntausend Menschen, um Blumen abzulegen. Vom Denkmal, dessen Sockel in den Landesfarben Lettlands und der Ukraine ausgekleidet war, wurden sie durch eine Absperrung ferngehalten. Die mitgebrachten Blumen durften sie nicht selbst ablegen, das übernahmen Mitarbeiter der Stadt.

Bereits am frühen nächsten Morgen begannen die Aufräumungsarbeiten. Ein Traktor mit Frontlader schaufelte die Blumen zusammen, als handele es sich um Unrat. Die Bilder sorgten umgehend für Empörung in den sozialen Medien, woraufhin sich am Siegesdenkmal erneut eine größere Menge versammelte. Der nicht mehr abgesperrte Vorplatz füllte sich erneut mit Blumen und Kerzen, es wurde gesungen und getanzt.

Das kostete sogar Innenministerin Maria Golubeva den Job. Sie trat zurück, nachdem ihr vor allem aus dem national-konservativen Lager vorgeworfen worden war, eine Destabilisierung der Lage zugelassen zu haben.

Rechtliche Grundlagen geschaffen

Konsequenzen zog auch die Regierung: Mitte Mai kündigte Lettland Artikel 13 eines Vertrages mit Russland – dem Rechtsnachfolger der Sowjetunion – auf: Er hatte das Land zur Pflege und zum Erhalt von Memorialen aus Sowjetzeiten verpflichtet. Einen Monat später nahm die Saeima, das lettische Parlament, ein Gesetz an, das die „Zurschaustellung von Objekten, die das Sowjet- und das Nazi-Regime verherrlichen“, verbietet, und ihre Demontage vorschreibt.

Demontage heißt dabei in der Regel: Zerstörung. In Einzelfällen kann eine Ausstellung der betreffenden Objekte in einem anderen Rahmen erfolgen. Dem Siegesdenkmal habe das Okkupationsmuseum in Riga jedoch keinen künstlerischen Wert bescheinigt, teilte Bürgermeister Mārtiņš Staķis mit. Es werde vollständig entsorgt.

Tino Künzel

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