Etwa 450 000 Wolgadeutsche wurden in 188 Zügen nach Sibirien und Kasachstan verbracht. Die Moskauer Deutschen wurden in vier Zügen untergebracht, die Kuban-Deutschen in 15. Im Sommer und Herbst 1941 fuhren Züge mit Deutschen aus mehreren sowjetischen Regionen gen Osten. In jedem von ihnen befanden sich etwa 2300 Menschen. Die Listen ihrer Passagiere, die Informationen über die Zusammensetzung der Familien, die Geburtsjahre ihrer Mitglieder, den Wohnort und manchmal auch den Beruf enthalten, hätten zu einer einzigartigen Information quelle für Hunderttausende von Menschen werden können. Und vor allem für die Nachkommen der Deportierten. Doch dazu kam es nicht. Da die Listen stehen den Wissenschaftlern nicht zur Verfügung. Es gibt nur wenige Ausnahmen.
Abfahrtslisten
2015 veröffentlichte die Wolgograder Professorin Nina Waschkau ein zweibändiges Buch mit dem Titel „Listen der deportierten Russlanddeutschen aus den Gebieten der ehemaligen Republik der Wolgadeutschen, die von der Oblast Stalingrad übernommen wurden“.
„Es war eine lange und mühsame Arbeit“, erinnert sich die Wissenschaftlerin. „Detaillierte Listen werden im Informationszentrum des Innenministeriums der Oblast Wolgograd aufbewahrt. Sie wurden als geheime Dokumente eingestuft. Es bedurfte großer Beharrlichkeit, um Zugang zu den Archivdokumenten zu erhalten. Die Arbeit selbst fand im Archiv des Innenministeriums der Oblast Wolgograd statt. Man durfte nicht kopieren, fotografieren, einen Laptop mitbringen usw. Man konnte sie nur per Hand abschreiben! Und zu Hause auf dem Computer abtippen. Dank meiner Studenten konnten wir diese Arbeit abschließen. Ich habe meine moralische Pflicht als Wissenschaftlerin und als Mensch gegenüber meinem Vater und seinen Verwandten, die in der Arbeitsarmee waren, erfüllt.“
Nina Waschkau ging davon aus, dass auch andere Forscher ihren Weg gehen würden. Aber seitdem gab es keine weiteren Veröffentlichungen. Warum? „Die Antwort liegt auf der Hand – weil es harte Arbeit ist!“, meint sie.
Seit 2009 sammelt der Lokalhistoriker Alexander Spack auf seiner Webseite „Geschichte der Wolgadeutschen“ Informationen über deportierte Wolgadeutsche, die nach Zügen aufgeschlüsselt sind. „Im Laufe der Jahre ist es uns gelungen, Informationen über lediglich 6905 Personen zu sammeln“, so Alexander Spack. Bis zu seinem Umzug 2022 nach Berlin als Spätaussiedler lebte er bei Wolgograd. „Die Hauptquelle sind die Informationen, die von den Deportierten selbst oder ihren Nachkommen anhand von Archivurkunden oder Karteikarten geliefert wurden. Diese Arbeit ist nicht abgeschlossen. Wenn jemand Daten zur Verfügung stellt, die in die Listen aufgenommen werden sollen, trage ich sie ein.“
Ankunftslisten
Die Krasnojarsker Gesellschaft „Memorial“ (nicht als ausländischer Agent eingestuft) bearbeitet die Zuglisten der Deutschen, die 1941 aus dem Wolgagebiet in die Region Krasnojarsk deportiert wurden. Sie werden auf der Webseite der Gesellschaft veröffentlicht. Wie schwierig diese Arbeit ist, lässt sich am Tempo ablesen. Sie begann vor einigen Jahren und bisher wurden erst Daten von 24 284 Personen vollständig bearbeitet. Insgesamt wurden 79 493 Deutsche aus dem Wolgagebiet nach Krasnojarsk umgesiedelt. Nach Angaben von Alexej Babij, dem Leiter der Gesellschaft, werden die endgültigen Listen nicht so bald erscheinen.
Aber alle diese Projekte sind auf die eine oder andere Weise mit den Wolgadeutschen verbunden. Es ist sehr schwierig, Informationen über Züge zu finden, die aus anderen Regionen kamen. Ganz zu schweigen davon, wer genau in ihnen saß.
Olga Silantjewa