Das Reptil mit dem Dreizack: 100 Jahre „Krokodil“

Wer sich das Leben in der Sowjetunion vorstellen möchte, braucht nicht lange nach verschiedenen Quellen zu suchen, es reicht eine. Das 1922 gegründete Satiremagazin „Krokodil“ war jahrzehntelang eine Art (Zerr-)Spiegel des Riesenstaates.

Die erste Ausgabe der Satirezeitschrift noch als Beilage zur „Rabotschaja gaseta“

„Charlie Hebdo“. Das wäre wohl das Erste, was einem heute in Zusammenhang mit dem Wort „Satirezeitschrift“ einfällt. Für mehrere Generationen Russen, die je nach Standpunkt Pech oder auch Glück hatten, in der Sowjetunion zu leben, war zweifelsohne das „Krokodil“ immer die Nummer eins. Völlig zu Recht, denn es war die schärfste, die kreativste und nicht selten die provokanteste Satire ihrer Zeit.

Junkers und Einstein

Die erste Ausgabe der Zeitschrift erschien Ende August 1922, nur fünf Jahre nach der sozialistischen Revolution. Die junge sowjetische Republik führte einen kompromisslosen Kampf gegen die alte Welt. An Feinden mangelte es weder in Russland noch im Ausland. Und das „Krokodil“ machte es sich zur Aufgabe, diese Feinde – verschiedene Gruppen, Typen und ganz konkrete Personen – zu entlarven und zu belachen.

„Er wird jeden inneren Feind der Arbeiter und Bauern der Sowjetunion bemerken.“ So warb die Ausgabe vom 6. Mai 1923 für das Spendensammeln für einen Aeroplan. Die Luftschifffahrt entwickelte sich in jener Zeit praktisch zu einer nationalen Idee. Kein Wunder, dass in einer der Ausgaben von 1922 ein großer Werbeartikel über Flugzeuge (heute würden wir so etwas ein Advertorial nennen) erscheint. „Die Passagieraeroplane Junkers, die 80 Prozent aller Flüge in Deutschland bedienen, gelten mit Recht als die besten Maschinen dieser Art.“ Das war jedem klar und verständlich, im Gegensatz zu Einstein. Auf der nächsten Seite derselben Ausgabe: „Die Ideen Einsteins widersprechen der Physik und der Geometrie. […] Seine Theorie ist weit vom Proletariat entfernt und auf keinen Fall ihm verwandt. Das ist eine Theorie der Bourgeoisie“.

Wer anderen eine Grube gräbt

Die Proletarier gestatten ihren Feinden keine Gnade und kein Pardon. Das war der Fall bei Leo Trotzki, der in den 30ern schon als „Lakai des Faschismus“ galt. Das „Krokodil“ trug auch zur Verfolgung der Trotzkisten bei: „In der Gestapo und im japanischen Generalstab spricht man über ihre Tätigkeit mit professioneller Begeisterung “. 1940 wurde Trotzki im Exil ermordet, aber zuvor fand sich der „Krokodil“-Chefredakteur Michail Kolzow in einer Haftanstalt wieder. Er wurde auf Befehl des Geheimpolizeichefs Nikolai Jeschow verhaftet. Allerdings standen in Kürze die Namen von Kolzow und Jeschow zusammen mit anderen „Trotzkisten und Verrätern“ auf derselben „Erschießungsliste“ Stalins.

Der Zweite Weltkrieg war eine besondere Zeit für das Magazin. Die Zeichnungen des Karikaturisten-Trios, das als Kukrynisy bekannt ist, waren eine starke Waffe im Kampf gegen Hitler-Deutschland. Die Wirkung ihrer Werke stand wohl mit der Arbeit des Radiosprechers Juri Lewitan („Achtung, hier spricht Moskau!“) auf gleicher Stufe.

Wodka, Gagarin und Generationskonflikt

Nach dem Tod Stalins (1953) begann in der Sowjetunion eine neue Epoche. Das Land triumphierte nicht auf dem Schlachtfeld, sondern als Verfechter des Friedens und der Völkerverständigung. Das Internationale Jugendfestival 1957 war ein Zeichen dafür, dass die Sowjetunion dem Rest der Welt offen stand. Freundschaft, Frieden, Bereitschaft für einen Dialog waren die Hauptthemen des „Krokodils“ in den 50ern und 60ern, Gagarin und seine legendäre Raumfahrt sowieso. Gleichzeitig wurde auch die Liste der heute als „unfreundliche Staaten“ bezeichneten Länder aktualisiert, auf der Deutschland nicht mehr ganz oben stand. Die US-amerikanische politische Führung und Vertreter der Rüstungsindustrie, ebenso wie die „israelische Militärclique“, blieben immer im Fokus der sowjetischen Karikaturisten. Vor allem in jener Zeit formierte die sowjetische Presse die Lexik und die Narrative, die man bis heute gerne benutzt. Die Satirezeitschrift lief auch vor den Problemen im Land nicht davon. Eine der schlimmsten Sünden der Sowjetbürger hieß Wodka.

Die Wahlen in Westdeutschland: Brandt oder Adenauer? „Krokodil“, 1961

Ungefähr das gleiche Bild war auch in den 70er Jahren und bis zum Ende der Sowjetunion zu beobachten. Außen: der böse Westen, von den USA geführt, samt dem militarisierten Israel und dem System der Apartheid in Südafrika. Innen: heiter, stellenweise ein paar Wolken. Mit seinem Dreizack piesackte das rote Krokodil vor allem die jüngere Generation, die sich im ewigen Konflikt mit den Eltern befand.

Das Ende einer Legende

In den 90ern sah die Zeitschrift offensichtlich blass aus. Statt scharfer politischer Satire brachte das „Krokodil“ freundliche Karikaturen als Illustrationen zu Interviews mit Promis. Umso beeindruckender war die Neubelebung der Zeitschrift in den 2000ern. Das rote Krokodil zeigte wieder seine Zähne. Eine der letzten Ausgaben aus dem Jahr 2008: Putin und Medwedew. Der russische Präsident trägt seinen Nachfolger auf der Schulter.

Alle Printmedien sind derzeit mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert, viele von ihnen wurden bereits aus finanziellen Gründen eingestellt. Aber das Aus des „Krokodils“ war sicher einer der größten Verluste. Diese eigentümliche Satirezeitschrift sucht noch ihresgleichen, keine „Charlie Hebdos“ können das Krokodil mit dem Dreizack in Russland ersetzen.

Das Archiv der Zeitschrift ist unter croco.uno zu finden.

Igor Beresin

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