Warum lieben die Russen ihren Herbst?

Der Jahreswechsel kann Einem schnell mal auf die Stimmung schlagen. Während eine bekannte Rockband unter dem Herbst leidet, weiß ein Schriftsteller die Saison effektiv zu nutzen. Doch was ist das Geheimnis der "goldenen" Jahreszeit?

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Die Blätterkrone auf dem Löwenhaupt im Park Kolomenskoje weckt vor allem Kindheitserinnerungen / Christopher Braemer.

Warum eigentlich lieben die Russen ihren Herbst so sehr? Möglicherweise liegt es an ihrem nationalen Lieblingshobby, dem man ausschließlich in dieser Saison frönen kann: Pilze sammeln. Vielleicht ist der Grund für die hohe Herbst-Aktivität neben dem „Pilzfieber“ aber auch einfach die Furcht vor dem russischen Winter. Tatsächlich steckt etwas mehr dahinter.

Denn wenn sich die Blätter allmählich von den Baumkronen lösen und die  städtische Natur in sattem Gold erstrahlt, dann scheint es so, als wäre die ganze Stadt auf den Beinen. Herbst in Russland bedeutet, ganz klar, Zeit zum Spazierengehen. Doch nur der Ortsansässige weiß, wo es während des „Goldenen Herbstes“ zu Fuß am schönsten in seiner „grünen“ Stadt ist. Zu den absoluten Lieblingsorten gehört sicher der Park Kolomenskoje, an der gleichnamigen Metro-Station gelegen, mit seiner wunderschönen „Christi-Himmelfahrts-Kirche” und einem atemberaubenden Moskau-Panorama. Der Legende nach einst von Ivan dem Schrecklichen erbaut, diente die Anlage auf dem Hügel am Flussufer als Erholungsort russischer Herrscher. Ja, die Moskauer lieben die Weiten des Waldes Bizewskij, vielleicht auch weil dieser weitaus geringer frequentiert ist als beispielsweise die populären Parkanlagen Sokolniki und Maxim Gorki. Nahe dem Stadtkern eignen sich die Sperlingsberge für einen ausgiebigen herbstlichen Spaziergang. „Kult“ sind dabei die vor allem bei Frauen und Kindern als Kopfschmuck beliebten Laubkränze. Verbinden die Russen ihren „Wenok“ heute vor allem mit Erinnerungen aus der Kindheit, wurden Kränze dieser Art in der Vergangenheit bei festlichen Anlässen wir Hochzeiten benutzt.

Ein Geheimtipp ist der unendlich große und hügelige Waldpark Fili-Kunzewskaja entlang der Moskwa – die weite, gut ausgebaute Promenade ist besonders für Radfahrer geeignet. Um die Schönheit des russischen Herbstes zu genießen und zugleich dem Trubel der Großstadt zu entgehen, eignen sich auch die Parks Birjulowskij, Metro Zarizino und Moskworetskij, Metro Krylatskoje. Die Stadtparks organisieren zu dieser Jahreszeit zahlreiche Veranstaltungen wie Läufe. So auch zu Halloween am 29. und 30. Oktober, im Kostüm über zehn Kilometer im Park Kusminki-Ljublino

Seit Jahrhunderten bereits wird der „Goldene Herbst“ durch Kunst und Kultur romantisiert. Liebhaber der Tretjakowskaja-Galerie sind die romantisch-verträumten Landschaften des Malers Isaak Lewitan vertraut. Und dass der Herbst doch gar nicht so schlimm ist, wusste bereits Puschkin. Für ihn bedeutete die manchen unbeliebte Jahreszeit vor allem Inspiration für sein Schaffen. Im Zuge einer Cholera-Epidemie dazu gezwungen, drei Monate im Anwesen seines Vaters in ländlicher Einsamkeit zu verbringen, wurde der Herbst 1830 zu seinem kreativen Lebenshöhepunkt: Er vollendete neben seinem Meisterwerk „Eugen Onegin“ unter anderem 30 weitere Gedichte. Im Frühjahr dagegen soll er an regelrechten Depressionen gelitten haben. Zur Beruhigung: Auch manch alteingesessenem Russen geht es, wie wohl dem Neu-Moskauer, genau umgekehrt. Dies besingt auch der Ohrwurm „Was ist dieser Herbst” der Rockband DDT. Dem Dazugezogenen mit Herbst-kummer sei also geraten, nicht hinzuhören und sich das triste Grau des Herbstes einfach „wegzuspazieren“.

Christopher Braemer

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